Auf Bl. 288r der Handschrift ÖNB Cod. 4683[i] leitet Petrus Reicher de Pirchenwart seine kursorische Lektüre zum alttestamentlichen Buch des Propheten Baruch wie folgt ein: „Divino auxilio suffragente pro secundo meo cursu lecturus Baruch […] resumo thema meum in principio primo meo primo habitum.“ Die kursorische Vorlesung über die Bibel bildete für die mittelalterlichen Theologen den Einstieg in den Lehrbetrieb ihrer Universität. Dem ersten unterrichteten Kurs ging ein principium biblicum, eine Art von Predigt – Lobpreis der Bibelstudien (recommendatio Scripturae, in den Katalogen oft prolusio genannt) – voran. Das vom Lehrenden gewählte erste Zitat (thema) aus dem zu kommentierenden Bibelbuch bildete daraufhin einen roten Faden in der akademischen Karriere: es wurde in die zweite kursorische Bibellektüre, und sowohl in die Predigten, als auch in die Einleitungsvorlesungen eingegliedert, die der Vorlesung über die Sentenzen des Petrus Lombard (principia) vorangingen. Manche Theologen haben es sogar in ihre magistrale Schrifterklärung aufgenommen[ii]. Noch bis heute können wir Theologen entlang eines biblischen Satzes im Labyrinth der anonymen Texte folgen. Diese Blog-Aufzeichnung lädt zu einem solchen Labyrinth-Besuch der Bibelkommentare aus der Frühzeit der Universität Wien (1384-ca.1430) ein.
Die Akten der Theologischen Fakultät bilden die Hauptquelle zur Erforschung kursorischer Bibelvorlesungen; diese erwähnen in der Regel einen Theologen gerade durch die Zustimmung zu seinen kursorischen Lektüren zum ersten Mal. Die kursorische Vorlesung über die Bibel war doppelt gestaltet: sie musste über ein Buch des Alten Testaments und ein Buch des Neuen Testaments stattfinden, deren Reihenfolge nicht bestimmt war. Folgende Tabelle verzeichnet die in Wien stattgefundenen kursorischen Lektüren anhand der Akten der Theologischen Fakultät für die Periode von 1396 – Beginn der Aktenaufzeichnung – bis 1430[iii]:
Wiener-kursorische-Bibelkommentare
Die Akten bezeugen keine systematische Aufzeichnung beider biblischer Vorlesungen, und es fehlt schlechthin jegliche Aufzeichnung zu manchen Jahrgängen, wie 1398, 1413, 1418 und 1425. Doch sogar diese fragmentarische Liste zeigt die Vielfalt der kommentierten Bibelbücher[iv]. Die Auflistung zeigt auch, dass, obwohl die „Publikation“ der kursorischen Kommentare an sich einen bedeutenden Unterschied zur Praxis der Veröffentlichung von Bibelkommentaren im 14. Jahrhundert zeigt[v], die Überlieferung nicht sehr umfassend ist. Eine weitere Besonderheit Wiener Bibelkommentare zeichnet sich dieser Tabelle auch ab: der ab und zu zum Vorschein kommenden Vermerk „Autograf“: Wiener kursorische Bibelkommentare wurden oft eigenhändig geschrieben. Dass die eine oder die andere Handschrift ein Autograf ist, kann man nur anhand nachweisbarer autografer Handschriften beweisen. Im Falle der Wiener Theologischen Fakultät ist dies teilweise durch die Dekanatsakten[vi] möglich. Da nicht alle Bibelkommentatoren auch Dekane der Theologischen oder der Artistischen Fakultät gewesen sind, ist die tatsächliche Verbreitung der Autographen-Praxis kursorischer Bibelkommentare allerdings nicht mehr zu erfassen.
Manchmal sind Handschriftensammlungen hilfreicher als Fakultätsakten. Im Falle eines der ersten Wiener Theologen lässt sich die Aktivität des Bibelkommentierens anhand einer einzigen Handschrift nachvollziehen. Paul von Geldern hat über die Bibel in Wien vorgelesen, und seine Vorlesungen eigenhändig abgefasst, bevor noch die Dekane seiner Fakultät mit der Aktenaufzeichnung begonnen haben. Der Codex Erfurt, CA 2°173, der ein das ganze Studium umfassendes Werk des Wiener Theologen ist, und für die darin überlieferten principia und Sentenzenkommentare des Paul von Geldern bereits studiert wurde, enthält außerdem seine Bibelkommentare. Auf Bl. 23r-100r kommentiert Paul von Geldern das alttestamentarische Buch Jesaja. Im biblischen principium wählt er den Vers „Dedi te in lucem gentium“ als Leitmotiv, und nennt ihn später noch einmal in seinen principia zu den Sentenzen[vii]. Am Ende der Isaias-Vorlesung verweist Paul im Bruchstück einer Rede auf den Pariser Gebrauch, den die Wiener Universität neben anderen akademischen Traditionen übernommen haben muss: die Schlusspredigt (collatio regratiatoria) eines Kurses soll nach dem Heiligen lauten, dessen festlicher Vorabend (vigilia) es war. Die auf Bl. 102r-138r folgende Texteinheit, eine Bibellektüre zum neutestamentarischen Brief des Paulus an Timotheus ist die zweite kursorische Lektüre des Paul von Geldern. Schließlich, das auf Bl. 182r-245v zu findende Kommentar ist die hier fragmentarisch überlieferte, vielleicht nie zu Ende gelesene magistrale Schriftauslegung des Johannes-Evangeliums des Paul von Geldern[viii]. Die scheinbar bedeutungslose Tatsache, dass die zwei kursorischen Bibellektüren in der Handschrift aufeinander folgen, wird erst anhand einer genaueren Betrachtung der Überlieferung Wiener Bibelkommentare sichtbar: ein solches Aufeinanderfolgen ist in der Tat eine Regelmäßigkeit der Handschriftentradition.
Ein weiteres Beispiel nacheinander folgender Kommentare lässt sich in ÖNB Cod. 4508 finden. In dieser Sammelhandschrift stehen auf Bl. 73r-91r und 95r-140v zwei, teilweise eigenhändig von Johannes Gmunden geschriebene Kommentaren – oder Teile davon – zum Buch der Genesis (1415) und Jakobs kanonischen Briefen (1416). Während von der Vorlesung zur Genesis nur das principium erhalten blieb, ist der Briefkommentar vollständig, d.h. mit principium, Prolog und Kommentar überliefert[ix]. Beide principia zitieren denselben Vers: „Gloria Domini apparuit in nube“ (Gen 16,10). Heinrich von Köln OP hat beiden seiner Lobpredigte zur kursorischen Bibellektüre hinterlassen, obwohl sich die Akten auf die Erwähnung der ersten Vorlesung zur Genesis aus dem Jahr 1417 beschränken. Alle zur Bibel und zugleich zu den Sentenzen vorgelesenen principia-Predigte fangen in Universitätsbibliothek Graz, Cod. 347 mit demselben Vers an: „Vidi faciem tuam quasi vultum Dei“ (Gen 33,10). Die Handschrift, Graz UB 347, deren Bibliotheksheimat das Dominikanerkloster in Pettau ist, verweist auf einen wahrscheinlichen Aufenthalt des Heinrich von Köln im Kloster seines Ordens, das ihn zur Schenkung seiner Handschrift bewegt haben muss[x].
Der rote Faden „Virtus Dei est in salutem omni credenti“ (Röm 1,16) weist in ÖNB Cod. 4907 die Autorschaft des im Jahre 1420 den Römerbrief kommentierenden Johannes Angrer de Mühldorf nach. In der Handschrift Cod. 4907 der Nationalbibliothek, deren zweiter Teil (ab Bl. 263) Angrer gehörte und voll mit seinen eigenhändigen Aufzeichnungen ist, lassen sich auf Bl. 381r-388v sein „primum principium cursus Bibliae“ und auf Bl. 389r-401r vier datierte Predigte zur Einführungslektüre in die Sentenzenkommentare mit dem selben Zitat finden. Die Eintrittsvorlesungen zu den vier Sentenzenbüchern selbst finden sich in ÖNB Cod. 5067, Bl. 281r-297r, in denen die Übernahme und Modellierung des Römerbrief-Zitats (z.B. Bl. 281r: „Quantum ad primum principale iuxta verba thematis moveo talem questionem: Utrum virtus Dei a principio formans hominem iustum sit temporaliter [mortem]marg.passa omni credenti in salutem“; usw.) rückweisend die Autorschaft des Johannes Angrer für das principium in ÖNB Cod. 4907 bestätigen[xi].
Einen Ausblick über den Zeitrahmen hinaus und die Nachhaltigkeit der Praktik zeigt die kursorische Lektüre des Thomas Wölfel de Wullersdorf aus den Jahren 1431-1433. Seine Einleitung zum Kommentar der Propheten Zacharias und Malachias findet sich in ÖNB Cod. 4719, Bl. 10r-15r, worauf seine principia zu den Sentenzen folgen[xii]. Beide der kursorischen Vorlesungen von Thomas Wölfel sind vollständig in ÖNB Cod. 4245 überliefert, eine Handschrift, die sich anhand der Wasserzeichen auf ca. 1430-1433 datieren lässt. Diese Handschrift überliefert einen Kommentar zum Markus-Evangelium auf Bl. 1r-179r (wohl ausgedehnt für eine kursorische Lektüre, doch: „beati Marti evangelium cursorie declarare“), der bislang Johannes Zink de Herzogenburg zugeschrieben wurde, und auf Bl. 181r-224r und 224r-245r die Kommentare zu Zacharias und Malachias der zeitlichen Reihenfolge der Vorlesungen von Wölfel entsprechend. Die Handschrift befand sich in Besitz des Thomas Wölfel von Wullersdorf, der sie der Rosenburse vermacht hat. Diese Schenkung ist beachtenswert. Thomas Wölfel besaß eine umfangreiche Bibliothek. Eine Reihe seiner Handschriften vermachte er dem Collegium ducale, unter ihnen mehrere Postillen des Nikolaus von Lyra. Aus der Rosenburse lassen sich hingegen nur drei Handschriften aus seinem Besitz nachweisen: ÖNB Codd. 4245, 4690 und 4719. ÖNB Cod. 4690 und Cod. 4719 enthalten seine principia und Sentenzenkommentare; ÖNB Cod. 4245 seine Bibelkommentare. Die Schenkung ist also eine rein persönliche Angelegenheit : Thomas Wölfel hat der Rosenburse die Handschriften vermacht, die er teilweise selbst geschrieben, aber auf jeden Fall selbst verfasst hat, und die sein theologisches Curriculum nachzeichnen.
Wenn die hier beschriebene Regelmäßigkeit der Überlieferung, d.h. das Aufeinanderfolgen der zwei kursorischen Lektüren zur Bibel konsequent durchgehalten wurde, müssten die Kommentare über Ezechiel auf Bl. 9r-220v und über Johannes auf Bl. 221r-278v in ÖNB Cod. 4912 Johannes Himmel zugeschrieben werden, der als einziger in dieser Reihenfolge über diese zwei Bibelbücher vorgelesen hat. Seine Hand ist unter den zahlreichen, am Codex mitwirkenden Händen nicht zu identifizieren. Unbestreitbar ist aber, dass der erste Teil der Handschrift eine kodikologische Einheit bildet (Bl. 1r-290r sind größer als der restliche Teil der Handschrift; sie enthalten zusätzlich zu den zwei Kommentaren eine Predigt auf die Heilige Katharina). Einzig die Datierung der Handschrift kann die Zuschreibung an Johannes Himmel könnte dagegen sprechen. Auf Bl. 9r findet sich nämlich das Datum 1415, obwohl laut Akten der Theologischen Fakultät Himmel in den Jahrgängen 1416-1417 als Kursor tätig gewesen sein muss. Gerade das ein Doppeljahrgang, wo die Aufzeichnungen ein wenig chaotisch gestaltet waren…[xiii]
Manche Kommentare werden trotz unserer Bemühungen nie unumstritten einem Autor zugewiesen werden können. Jedoch bleiben uns in den aus der Bibliothek des Collegium ducale und der Rosenburse, den zwei ältesten Theologenbibliotheken in Wien, stammenden, in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrten Handschriften kaum noch anonym überlieferte Bibelkommentare[xiv].
[i] Diese Notiz ist im Rahmen der Forschungen für das FWF-Projekt V356 entstanden.
[ii] Zum Unterschied zwischen kursorischer und magistralen Vorlesung siehe A. Maierù, „Les cours: lectio et lectio cursoria (d’après les statuts de Paris et d’Oxford)“, in O. Weijers u. L. Holtz (Hrsg), L’enseignement des disciplines à la Faculté des arts (Paris et Oxford, XIIIe-XVe siècles), Turnhout 1997, S. 373-391.
[iii] Alle Angaben sind P. Uiblein, Die Akten der Theologischen Fakultät der Universität Wien (1396-1508), Wien 1978, Bd. 1 entnommen. Die Handschriften wurden laut Bd. 2 verzeichnet; in der Schreibweise der Personennamen wurde ebenfalls den Akten gefolgt.
[iv] A. Maierù, „Les cours: lectio et lectio cursoria (d’après les statuts de Paris et d’Oxford)“, S. 383.
[v] W. J. Courtenay, „The Bible in medieval universities“, in R. Marsden und E.A. Matter, The New Cambridge History of the Bible, Bd. 2: From 600 to 1450, Cambridge 2012, S. 573-574.
[vi] Mikrofilme Nr. 64 für die AFA I (Akten der Artistischen Fakultät) und Nr. 75 für AFTh I (Akten der Theologischen Fakultät) der Archiv der Universität Wien.
[vii] M. Sokolskaya, „Paul von Geldern – Ein Wiener Universitätstheologe aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Zur Handschrift 2°173 der Collectio Amploniana zu Erfurt“, Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte, 8 (2012), S. 193-236, ins. 204-210.
[viii] F. Stegmüller, Repertorium biblicum Medii Aevi, Madrid 1950-1980, Nr. 6332 u. 6333.
[ix] P. Uiblein, „Johannes von Gmunden. Seine Tätigkeit an der Wiener Universität“, in: Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen, Wien 1999, S. 362-363.
[x] Die Handschrift ist digitalisiert: http://143.50.26.142/digbib/handschriften/Ms.0200-0399/Ms.0347/index5.html (letzter Zugang am 23. Mai 2016). Die Autorschaft der principia wird bei Frank gezeigt: I.W. Frank, Hausstudium und Universitätsstudium der Wiener Dominikaner bis 1500, Wien 1964, S. 191-192.
[xi] Siehe W. J. Courtenay, „From Dinkelsbühl’s Questiones Communes to the Vienna Group Commentary“, in: M. Brinzei (Hrsg.), Nicholas of Dinkelsbühl and the Sentences at Vienna in the Early Fifteenth Century, Turnhout 2015, S. 287-291.
[xii] Siehe Anm. 14 in http://www.iter-austriacum.at/uncategorized/sentences-commentaries-from-the-early-university-of-vienna-under-the-palaeographical-magnifying-glass/. Man müsste die Autorschaft des Sentenzenkommentars in ÖNB Cod. 4719 – bislang Johannes de Tittmoning zugeschrieben – überprüfen. Das ebenda eingebundene principium biblicum zum Johannesevangelium auf Bl. 3r-9r von einer in der Handschrift sonst nicht nachweisbaren Hand ist vielleicht Nikolaus de Aoelen zuzuschreiben, der den Text 1433, um die Entstehung der Handschrift ÖNB 4719, kursorisch kommentiert hat: AFTh, S. 110.
[xiii] Die Aufzeichnungen zum Jahr 1416 sind am Rande von Thomas Ebendorfer ergänzt; siehe AFTh, S. 34-35.
[xiv] Ich möchte hier auf die in ÖNB Cod. 4637 und Cod. 4835 überlieferten Bibelkommentare hinweisen. Beide Handschriften waren im Besitz des Johann Gwerlich (Uni. Bologna, Dr. iur. Augsburg, Uni Wien ab 1421), und danach in der Rosenburse.