Im Rahmen der Ausstellung „Handschriften und Papyri: Wege des Wissens“ im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek besteht noch für etwa zwei Monate die Möglichkeit den Hilarius-Papyruscodex der ÖNB, die einzige einigermaßen vollständige Papyrushandschrift Österreichs, und alle einst der ehemaligen Sammelhandschrift zugehörigen Handschriften(fragmente) zu sehen. In meinem Katalogbeitrag gehe ich näher auf das Schicksal des Bandes in der frühen Neuzeit ein, um zu zeigen, wie sich die Nutzung und Einschätzung der Handschrift im Laufe der Jahrhunderte änderte. Da in den kurzen, für ein breiteres Publikum gedachten Aufsatz nicht alle Details aufgenommen werden konnten, soll dieser Blogbeitrag einige zusätzliche Informationen zur Geschichte der Handschrift im 18. Jahrhundert liefern.
Wie bereits in einem vorangehenden Blogbeitrag beschrieben, war die Papyrushandschrift aus Hilarius, De Trinitate (6. Jh., heute ÖNB Cod. 2160*, mit Digitalisat) ursprünglich mit einer Abschrift der Paulusbriefe in Beneventana (10. Jh., heute ÖNB Cod. 903) zusammengebunden. Als Falzstreifen für den Papyrusteil wurden Streifen aus zwei Handschriften des 5. Jahrhunderts verwendet (heute ÖNB Cod. 1, mit Digitalisat), im Deckel französische Fragmente aus dem 14. Jahrhundert (heute ÖNB Cod. ser. n. 242, mit Digitalisat)[1]. Gesichert ist, dass der Band in dieser Form etwa 1799/1800 in die Hofbibliothek gekommen ist. Jedoch schon vor der Eingliederung in die Bibliothek muss die Handschrift der Wissenschaft zugänglich gewesen sein. In den Beständen der ÖNB findet sich eine unvollständige Abschrift des Papyrusteils sowie paläographische Untersuchungen, die beide von Josef Benedikt Heyrenbach verfasst wurden (siehe diesen Blogbeitrag). Der Historiker und Hilfswissenschafter Heyrenbach, ein ehemaliger Jesuit, trat 1773 in den Dienst der Hofbibliothek und blieb dort bis zu seinem verfrühten Tod im Jahre 1779. In welchem Zusammenhang er die Möglichkeit hatte, die Handschrift genau zu studieren, lässt sich nicht mehr eindeutig feststellen (für einen Hinweis siehe weiter unten im Text). Sicher ist, dass der Band damals noch nicht Teil des Bestandes der Hofbibliothek war.
Nur der vorletzte Schritt des Weges der Handschrift in die heutige ÖNB ist bisher schriftlich belegbar: Im Februar 1799 übersandte Kaiser Franz II. den Sammelband zur Schätzung seines Wertes an Gottfried van Swieten, den Präfekten der Hofbibliothek (ÖNB Archiv, HB 664/1799) mit den Worten Sollten Sie dasselbe [Manuskript] von einem Werthe, und für die Hofbibliothek geeignet finden, so haben Sie solches dahin abzugeben, widrigenfalls aber mir wieder zurückzustellen, und in jedem Falle ihr Gutachten zu erstellen, was dieses beiläufig an Geld werth seyn mag.
Das erwünschte Gutachten, das ebenfalls in der eingangs genannten Ausstellung zu sehen ist, erstellte der erste Kustos der Hofbibliothek, der ehemalige Jesuit Michael Denis (ÖNB Archiv, HB 665/1799). Denis, der große Erfahrung in der Handschriftenbearbeitung hatte und an einem Katalog der theologischen Handschriften der Hofbibliothek arbeitete, führte penibel die positiven und negativen Aspekte des Bandes an (fol. 1r):
Der Codex hat für sich, daß er größtentheils auf ägyptischem Schilfpapiere, und zwar bereits vor der Mitte des V. Jahrhundertes geschrieben worden ist. Er hat wider sich, daß er nichts Ungedrucktes, nichts Ganzes, sondern nur Bruchstücke der XII Bücher des Hilarius Pictav. de S. Trinitate, und ein Fragment, welches erst noch zu untersuchen wäre, dann die Epistolas Pauli Apost. ebenfalls gestümmelt enthält, und dabey nicht wenig schadhaft, verwittert, von Insecten angestochen, folglich hier und dort bereits beynahe unlesbar ist.
An zwei Stellen irrt Denis: die Handschrift stammt nicht aus dem 5., sondern aus dem 6. Jahrhundert und nicht alle enthaltenen Texte sind bereits gedruckt. Das Fragment, das seiner Meinung nach noch untersucht werden muss, ist ein unikal überlieferter Text gegen den Arianismus, den Denis selbst in seiner Katalogbeschreibung der Handschrift zum ersten Mal abdruckt. Der Fehler in der Datierung entstand dadurch, dass Denis jenen Dulcitius, der die Handschrift korrigiert, für den gleichnamigen nordafrikanischen Tribun hielt, für den Augustinus unter anderem das Werk De octo quaestionibus schrieb (um 425).
Nach dieser umfänglichen Kritik an der Handschrift fuhr Denis in seinem Gutachten fort (fol. 1v):
Nichtsdestoweniger im Betrachte, daß die Hofbibliothek äußerst wenige Cimelien von seinem so hohen Alter besitzet, und durch dieses Stück in den Besitz eines Codexes auf Schilfpapiere käme, den sie bisher auf die Fragen besuchender Kenner immer verneinen mußte, glaubet der Unterzeichnete, daß es zu ihrem Vortheile gereichen würde, wenn sie diese äußerste Seltenheit um den Preis von 100 Speciesducaten an sich bringen könnte.
Ob es tatsächlich so viele „besuchende Kenner“ gab, die nach einer Papyrushandschrift fragten, sei dahingestellt. Deutlich wird allerdings, dass Denis die Handschrift jedenfalls für die Bibliothek haben möchte. So überrascht auch seine Zusammenfassung nicht:
Ich bitte I(hre) E(xzellenz) diesen Codex nicht entgehen zu lassen. Er wird eine Zierde der bibliothek seyn und in Ihrer Verwaltung Epoche machen.
In seinem Antwortschreiben vom 26. Februar 1799 (ÖNB Archiv, HB 666/1799) übernimmt Gottfried van Swieten die Argumentation, und die Handschrift gelangte in der Folge tatsächlich in die Hofbibliothek.
Aus den eben beschriebenen Unterlagen geht nichts über die Herkunft der Handschrift hervor. Dazu schreibt Michael Denis 1799 in seinem Handschriftenkatalog: Vir nobilissimus, Familiae Caput, ad quam olim ex Italia adlatus hereditate transierat, Hero suo Augusto nuper obtulit. Anfang der 19. Jahrhunderts nennt Ignatius von Mosel dieses Familienoberhaupt beim Namen[2]: Camillo IV. Colloredo (1712-1797), Obersthofmeister der Erzherzogin Maria Anna und Geheimer Rat des Kaisers Franz II. in Wien. Die weit verzweigte Familie Colloredo stammte ursprünglich aus Friaul, sodass eine italienische Erbschaft nicht unwahrscheinlich scheint. Camillo IV. ist jedoch vor allem als Alleinerbe von Maria Josepha von Montecuccoli bekannt und damit unter anderem der Herrschaft Walpersdorf (NÖ). Dies schließt natürlich weitere Erbschaften nicht aus, die jedoch bisher noch nicht untersucht worden sind (zu den Familienverhältnissen siehe z.B. hier)[3]. Ein Indiz, dass Colloredo tatsächlich der Besitzer der Handschrift war, liefert der zu Beginn erwähnte Josef Benedikt Heyrenbach. In einem Konvolut paläographischer Notizen von seiner Hand (ÖNB Cod. 9492, näheres hier) heißt es auf fol. 2v: Collorediani Codicis note marginales. Dem Eintrag folgen keine Schriftproben, sodass nicht mit Sicherheit feststeht, dass er sich hier auf die Papyrushandschrift bezieht. Im gleichen Konvolut findet sich allerdings ein Quartheft mit einer großen Anzahl an exakten Umzeichnungen aus der Hilarius-Handschrift. Heyrenbach hat also vielleicht die Handschrift benutzt, als sie noch im Besitz Colloredos war.
Ebenso wenig gesichert wie der Schenker, ist auch der Empfänger des Bandes. Aus den Lebensdaten Colloredos kommen Josef II. (gest. 1790) Leopold II (gest. 1792) und Franz II. (gest. 1832) in Frage. Am wahrscheinlichsten ist nach bisherigen Erkenntnissen ein Geschenk Camillos IV. an Josef II., was jedoch nur durch weitere Archivrecherchen beweisbar ist (nähere Details hier).
Schon als Heyrenbach die Handschrift benutzte, war sie nicht mehr vollständig. Während der Großteil der fehlenden Blätter im Laufe der Jahrhunderte zugrunde gegangen sein mag, lassen sich zumindest drei vom Buchblock getrennte Folia heute noch nachweisen. Ein vollständiges Blatt findet sich in der Vatikanischen Bibliothek als Teil der 1902 erworbenen Barberini Bibliothek (Vat. Barb. Lat. 9916). Über die Geschichte des Blattes ist bisher nichts bekannt[4]. Die beiden anderen Blätter werden heute in Österreich aufbewahrt. Die ÖNB erwarb 1954 vom bekannten Schauspieler, Operettensänger und Regisseur Hubert Marischka (1882-1959) Bruchstücke zweier Blätter, die unter derselben Signatur wie der Hauptteil der Handschrift aufbewahrt werden (ÖNB Cod. 2160*)[5]. Auch über ihre Herkunft ist nichts bekannt. Auffällig ist jedoch die Aufschrift Ex libro S(ancti) Augustini. Manu propria.
Sie scheint darauf hinzudeuten, dass das Papyrusstück als eigenhändig von Augustinus geschrieben interpretiert wurde. In ähnlicher Weise kann auch eine Beischrift eines weiteren Fragments verstanden werden. Das Stift St. Florian bewahrt unter der Signatur Cod. III. 15. B die obere Blatthälfte des eben beschriebenen Folium auf. Der Papyrus ist mit einem barocken Rahmen umgeben und mit Zierleisten geschmückt. Über dem Text ist ein Spruchband angebracht mit der Aufschrift Manuscriptum S(ancti) P(atris) Augustini Ep(iscopi) Conf(essoris).
Die beiden österreichischen Fragmente scheinen also im 18. Jahrhundert (?) als eine Art Reliquie des Kirchenvaters ausgegeben worden zu sein. Neben der Beischrift weisen darauf vor allem die scharfen Kanten des Wiener Fragmentes hin, die wohl durch Zerschneiden des Blattes und nicht durch Bruch entstanden und keine Rücksicht auf den Text nehmen. Ein Indiz für die Zielgruppe dieser Uminterpretation ist vielleicht die Provenienz des Stückes in St. Florian. Nach Auskunft des Stiftsbibliothekars Dr. Friedrich Buchmayr, der dankenswerter Weise auch das hier gezeigte Foto für mich anfertigte, findet sich im gedruckten Handschriftenkatalog des Stiftes der folgenden handschriftliche Nachtrag von Albin Czerny (1821-1900, Stiftsbibliothekar und Verfasser des Handschriftenkatalogs):
„Handschrift auf Papyrus; ein handbreiter Streifen, einst Eigenthum des Klosters Garsten. Von einem Domprälaten in Linz kam sie in die Hände des Pfarrers Franz Hagelmüller in Neuhofen bei Ried (Innkreis), von dem sie die Bibliothek St. Florian 1885 um 50 fl. erwarb. Fragment aus den Werken des heil. Augustinus.“
Nach Garsten muss das Blatt jedenfalls vor der Aufhebung des Stiftes 1787 gekommen sein. Ob der Rahmen mit der Beischrift in Garsten entstand oder schon früher, ist nicht zu entscheiden. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Blatt eher nicht aufgrund paläographisch-historischer Interessen erworben wurde: eine vertiefte Beschäftigung mit den noch jungen Hilfswissenschaften ließ sich in Garsten bisher nicht feststellen. Auch bei den weiteren Besitzern scheint eine Erwerbung aus wissenschaftlichem Interesse weniger wahrscheinlich. Erst Albin Czerny erkannte wohl aufgrund seiner Erfahrung mit Handschriften den historischen Wert des Fragments. So beschreibt er es zwar unzutreffend als ein „Fragment aus den Werken des heil. Augustinus“, hält es aber keineswegs für ein Autograph. Heinrich Sedelmayer weist das Blatt schließlich 1903 der Wiener Handschrift zu[6].
Gern wüsste man mehr über die Umstände die zur Zerstückelung der Handschrift geführt haben. Vielleicht bringen gründlichere Archivrecherchen hier noch Ergebnisse oder es tauchen gar noch weitere Blätter des Codex in anderen Sammlungen auf.