Lambeciana

Im Oktober 1662 übersiedelte der hochverschuldete Hamburger Gelehrte Peter Lambeck[1] endgültig nach Wien und trat eine Stelle als „Historiographus und Vice-Bibliothecarius“ in der kaiserlichen Hofbibliothek an.

Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Sondersammlungen, P 22 : L 4-5 (CC BY-SA 4.0)

Seine umfangreiche Bibliothek hatte er, vielleicht als Pfand für seine Schulden, in der Hansestadt zurücklassen müssen. Verkaufsverhandlungen zogen sich hin; schließlich gelang es Lambeck (seit 1663 kaiserlicher Bibliothecarius), die Büchersammlung für 2300 Gulden seinem Dienstherren Kaiser Leopold I. zu verkaufen und sie damit zu einem Bestandteil der Hofbibliothek zu machen. Die Bücher wurden in 20 Kisten verpackt und über Leipzig nach Wien transportiert. Im April 1667 waren Bibliothekar und Bibliothek wieder vereint. Lambecks Büchersammlung besteht zum überwiegenden Teil aus Drucken, aber auch aus einigen Handschriften. Ein vierbändiger Katalog, geordnet nach Format und dann jeweils in Sachgruppen gegliedert, erschließt die Sammlung und erlaubt die Identifikation der heute noch in der Österreichischen Nationalbibliothek vorhanden Bände[2].

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13507: Vorderdeckel und f. 3r

Eine Reihe von mittelalterlichen Handschriften aus Lambecks Besitz nennt bereits Hermann Menhardt in der Einleitung zu seinem „Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek“[3]. Weitere Bände sind im Online-Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek nachgewiesen. Wenn man die – oft sehr detaillierten – Einträge in Lambecks Katalog als Grundlage nimmt, lassen sich aber ohne große Mühe noch weitere Bände feststellen. Im Folgenden sollen dafür drei Beispiele gegeben werden.

Unter den Theologici in Folio beschreibt Lambeck ein manuscriptum in charta, das den Bußpsalmenkommentar Papst Innocenz III. und die Testamenta XII patriarcharum in der Übersetzung des Robert Grosseteste enthält. Ein Zusatz zur Beschreibung teilt mit, daß auf der ersten Seite der Handschrift folgende Eintragung zu lesen ist: Honorabilis vir dominus Andreas Steenbeke de Lentze, perpetuus vicarius in capella Sancti Spiritus Hamburgensis, donavit hunc librum in suo testamento ad lecturam doctoralem pro animae suae salute. Qui obiit anno Domini MCCCC° LXXV feria quarta secundo [sic!] mane post dominicam Cantate post Pasca. Requiescat in pace.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13507, f. 7v-8r

Aufgrund dieser Angaben läßt sich sofort der Cod. 4620 der Österreichischen Nationalbibliothek identifizieren, auf dessen f. 1r sich tatsächlich der zitierte Eintrag findet – und Lambecks Lesung secundo mane in das tatsächlich zu erwartende summo mane berichtigt werden kann[4].

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4620, f. 1r

Die durch das Testat des Andreas Steenbeke begünstigte Institution ist die „Lectura doctoralis“, eine 1408 durch den Kanoniker Johannes Vritze im Hamburger Domkapitel gestiftete Pfründe, deren Inhaber mit der Erteilung von theologischem Unterricht beauftragt war. 1430 wurde dieser Pfründe eine zweite mit entsprechender Aufgabe hinzugefügt[5]. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts erhielten diese Pfründen durch Schenkungen und Nachlässe umfangreichen Buchbesitz, der zum Teil durch Urkunden und Inventare dokumentiert ist – eine erhaltene Handschrift ist hingegen bisher nicht bekannt gewesen[6]. Auch das Testat des Andreas Steenbeke ist in einem Inventar erwähnt: Dominus Andreas Stenbeke, vicarius capelle sancti spiritus, pro sui memoria dedit quendam librum in asseribus ligatum, cum albo coreo coopertum, continentem expositiones Innocentii super Psalmos penitenciales septem[7].

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4620

Da über das nachmittelalterliche Schicksal der den beiden Lecturae zuzuordnenden Buchbestände nichts bekannt ist[8], gibt es auch wenig Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage, wie Lambeck in den Besitz des Bandes gelangt ist.

Das selbe gilt für einen Band, der in Lambecks Bibliothekskatalog beschrieben ist als Pauli de Sancta Maria ex Iudae Episcopi Burgensis in Hispania, Scrutinium Scripturarum in duas divisum partes, quorum prior Colloquium Sauli et Pauli, posterior autem Colloquium Discipuli et Magistri Continet. Manuscriptum in Charta. Wesentlich ist die erläuternde Hinzufügung, die den Explicit-Vermerk des Codex zitiert: Explicit Dialogus, qui Scrutinium dicitur Scripturarum, compositus per Reverendissimum Patrem Dominum Paulum de Sancta Maria sacrae Theologiae eximium Professorem ac Burgensem Episcopum; et finivit eum, priusquam [sic!] compleuit Additiones super Nicolaum de Lira Anno Domini 1434  /: h(oc) e(st) 1434 :/ anno aetatis suae 81. Fuit etiam praefatus Reverendissimus Dominus Paulus episcopus Serenissimi Regis Castellae et Legionis Archicancellarius, ex Iudaica gente natus. Et postquam Hebraicos Doctores et Scripturas plene noverat, in provecta aetate Christianus effectus, hunc Dialogum post Additiones, quas ad Apostillas Magistri Nicolai de Lira super utrumque Testamentum anno supradicto composuit, etiam perfecit[9]. Es handelt sich um das in Handschriften und frühen Drucken überaus häufig überlieferte, in Dialogform abgefaßte kontroverstheologische Werk Scrutinium Scripturarum des konvertierten Juden und späteren Bischofs von Burgos Paulus de Sancta Maria (gest. 1435)[10]. Allein die Österreichische Nationalbibliothek besitzt mit den Cod. 3658, 4141, 4148, 4573, 4867 und 15467 mindestens sechs Handschriften dieses Werkes. Von diesen ist nur Cod. 4141 bisher ohne nähere Angaben zur Provenienz. Das erste Blatt dieser Papierhandschrift, die mit einem Präfekteneinband von 1752 versehen ist und als einzigen Text das Scrutinium enthält, fehlt, so daß der Text im Prolog des Werkes einsetzt.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4141, f. 1r

Interessant ist aber vor allem der Schluß des Textes auf f. 279v. Hier findet sich der Explicit-Vermerk im selben Wortlaut, wie ihn Lambecks Katalog wiedergibt, wobei der Text in zwei durch einen Handwechsel unterschiedene Teile geteilt ist.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 4141, f. 279v

Für eine Identifizierung des Manuskripts mit dem von Lambeck beschriebenen wäre die Übereinstimmung mit dem ersten Teil des Explicit-Vermerks allein noch kein ausreichender Beleg: der Text Explicit dialogus qui scrutinium dicitur scripturarum compositus per reuerendissimum patrem dominum Paulum de sancta Maria sacre theologie eximium professorem ac Burgensem episcopum et finiuit eum postquam compleuit additiones super Nicolaum de Lira Anno domini 1434o anno etatis sue 81 ist wohl als Bestandteil der Überlieferung anzusehen, denn er findet sich weitgehend gleichlautend auch in anderen Handschriften und Inkunabeldrucken des Werkes[11]. Eine vielleicht etwas später zu datierende Hand hat den Explicit-Vermerk um weitere Angaben zur Biographie des Autors und zur Bedeutung des Werkes ergänzt: Fuit autem prefatus reuerendissimus dominus Paulus episcopus serenissimi Regis Castelle et Legionis archicancellarius, ex iudaico genere natus, et postquam hebraicos doctores et scripturas plene nouerat in prouecta etate christianus effectus hunc dialogum post additiones suas ad postillas magistri Nicolai de Lira super utrumque testamentum anno supradicto composuit et perfecit. In quo verus intellectus omnium scripturarum et prophetarum inuenitur saltem(??) in illis passibus in quibus fides catholica fundatur, de quo semper Deo gratias. Abgesehen vom letzten Satz findet sich dieser Zusatz wörtlich auch in Lambecks Beschreibung der Handschrift in seinem Bibliothekskatalog. Es ist daher zu vermuten, daß in Cod. 4141 das Exemplar aus Lambecks Besitz vorliegt. Leider finden sich in der Handschrift keine Hinweise auf mittelalterliche Vorbesitzer – vielleicht befanden sich diese auf dem nun fehlenden ersten Blatt.

Einen klaren Hinweis auf mittelalterliche Vorbesitzer enthält hingegen Cod. 5140. Auf dem ersten Blatt der Handschrift, die Texte aus dem Umkreis des Konzils von Konstanz enthält,  steht nicht nur am unteren Rand ein Besitzvermerk der Kartause Stettin, sondern es wird auch der Name des Schenkers genannt: Liber Carthusiensium prope Stettinum quem dedit dominus Iohannes Zasse. Am oberen Rand, über dem Beginn des Textes, hat dieser auch (wohl) selbst seinen  Namen eingetragen: Liber domni Iohannis Sassen.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 5140, f. 1r

Die Identität von Cod. 5140 mit dem in Lambecks Katalog beschriebenen Band ist wieder durch die Übereinstimmung der Angaben gesichert (auch wenn Lambeck Sasses Vornamen versehentlich als Iob statt Iohannes gelesen hat). Sie wurde bereits durch einen modernen Forscher (vielleicht Hermann Menhardt?) festgestellt und mit Bleistift am Rand des Manuskripts notiert. Die Herkunft des Bandes aus der Stettiner Kartause findet sich derzeit in keinem der Repertorien von Sigrid Krämer vermerkt[12].

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13507, f. 12r

Nicht ohne Reiz ist die in Lambecks Bibliothekskatalog zum nächsten Titel am Rand eingetragene Bewertung eines Benützers wohl des 18. Jahrhunderts. Das Buch, das hier mit einem vernichtenden Pestilens author abgetan wird, ist der erste Band des vierbändigen  Examen Concilii Tridentini des protestantischen Theologen Martin Chemnitz, erschienen 1578 in Frankfurt am Main (VD16 C 2170). Auch dieses Buch ist erhalten geblieben; es ist heute im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek unter der Signatur 21.E.26 aufgestellt; auf dem Titelblatt findet sich der eigenhändige Besitzeintrag des 1662 zum Katholizismus konvertierten Petrus Lambeck.

Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 21.E.26 Bd. 1, Titelblatt

Daß eine weitere Beschäftigung mit Lambecks Bibliothekskatalog noch interessante Ergebnisse zutage fördern wird, ist sicher; solche werden gegebenenfalls im Iter Austriacum veröffentlicht werden.


[1]
Gebhard König, Art. „Lambeck, Peter“, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 13 (1982) 426f. (Online); GND.

[2] Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13507 (Bücher in 2°), Cod. 13508 (Bücher in 4°), Cod. 13509 (Bücher in 8°), Cod. 13510 (Bücher in 12°).

[3] Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der österreichischen Nationalbibliothek (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin – Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13, Berlin 1960-1961), hier Bd. I S. 16 und Index s.v. „Lambeck, Peter“, Bd. III S. 1595.

[4] Da die Abschrift von Innocenz‘ Bußpsalmenkommentar mit 28. Oktober 1407 datiert ist, ist die Handschrift auch erwähnt in: Die datierten Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek von 1401 bis 1450. Beschr. v. Franz Unterkircher (Katalog der datierten Handschriften in lateinischer Schrift in Österreich 2, Wien 1971) 106, online hier.

[5] Eduard Meyer, Geschichte des Hamburgischen Schul- und Unterrichtswesens im Mittelalter (Hamburg 1843) 60-105 (online hier).

[6] Sigrid Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittealters (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Ergänzungsband 1, München 1989) Bd. 1, 315-318 kennt die beiden Lecturae als buchbesitzende Einrichtungen gar nicht; in der Online-Datenbank Sigrid Krämer, Scriptores possessoresque codicum medii aevi. Datenbank von Schreibern und Besitzern mittelalterlicher Handschriften (Augsburg 2003-2012) ist zwar Andreas Steenbeke mit dem Cod. 4620 nachgewiesen, aber die Verbindung zu den Lecturae nicht hergestellt; die Online-Datenbank Sigrid Krämer, Bibliothecae codicum medii aevi. Versuch einer Rekonstruktion mittelalterlicher Bibliotheken in Europa nach dem heute noch vorhandenen Handschriftenbestand. Datenbank mittelalterlicher Bibliotheken und ihrer Handschriften in Deutschland und anderen Ländern Europas. Handschriftenbibliotheken des europäischen Mittelalters (Augsburg 2010) erwähnt zwar unter dem etwas irreführenden Sammeltitel „Hamburg, Universität“ (eine Universität gab es in Hamburg erst ab 1919) aufgrund der urkundlichen Dokumentation die beiden Lecturae, kennt aber keine erhaltenen Handschriften.

[7] Meyer, Geschichte 403.

[8] Meyer, Geschichte 73; und vgl. die Publikationen von Sigrid Krämer, wie Anm. 6.

[9] Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 13507, f. 10r-11r.

[10] Friedrich Stegmüller, Repertorium biblicum Bd. 4 (Madrid 1954) 194 Nr. 6328, Bd. 9 (Madrid 1977) 331 Nr. 6328; zur Inkunabelüberlieferung vgl. die Eintragungen im Gesamtkatalog der Wiegendrucke.

[11] So etwa als Schlußschrift in Basel, Universitätsbibliothek Cod. B.I.17 f. 372r; am Beginn des Textes in Graz, Universitätsbibliothek Cod. 679 und in München, BStB Clm 14308. Beispiele aus Inkunabeln: GW M29969, Exemplar München, BStB; GW M29971, Exemplar Wolfenbüttel HAB; GW M29976, Exemplar Darmstadt, ULB.

[12] Wie oben Anm. 6. Sie wird auch nicht erwähnt in Edward Potkowski, Die Schriftkultur der Stettiner Kartäuser, in: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Ed. Sönke Lorenz, redigiert von Oliver Auge und Robert Zagolla (Contubernium 59, Stuttgart 2002) 165-193. Krämer verweist aber auf eine andere Handschrift, die Johannes Sasse der Stettiner Kartause geschenkt hat: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat. qu. 30 (Rose Nr. 543).

Dieser Beitrag wurde unter Bibliotheksgeschichte abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.