Eine der Hauptbeschäftigungen während meiner MA Arbeit am Institut für Österreichische Geschichtsforschung war die Suche nach bisher unbekannten Heiligenkreuzer Handschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek[1]. Die Art der Untersuchung und auch der Zeitrahmen der Arbeit bringen es mit sich, dass eine solche Suche niemals wirklich abgeschlossen werden kann. Mit jeder neuen Handschrift und mit jeder weiteren Forschung zur mittelalterlichen Bibliothek wächst die Zahl der möglichen Indizien, die zur Neuidentifikation herangezogen werden können[2]. In diesem Blogbeitrag soll es daher um die Zuweisung von Cod. 1004 der Österreichischen Nationalbibliothek an Heiligenkreuz gehen und damit um die Bestätigung einer von Michael Gorman in den 1990ern geäußerten Theorie.
Der früheste gesicherte Vorbesitzer von ÖNB Cod. 1004 war bisher der Humanist Johannes Alexander Brassicanus (1500-1539)[3], der den Titel am Vorderdeckel und die Überschrift auf fol. 17r eintrug. In Tübingen geboren, unterrichtete er in seiner Heimatstadt, in Ingolstadt und schließlich in Wien, wo auch er verstarb. Brassicanus durchstreifte während seiner Wiener Zeit diverse umliegende Klöster auf der Suche nach mittelalterlichen Handschriften, die er einerseits seiner Bibliothek einverleibte, andererseits als Grundlage für von ihm herausgegebene Drucke verwendete. Auf diese Weise gelangte etwa eine Abschrift des Genesiskommentars von Claudius von Turin aus der Stiftsbibliothek Heiligenkreuz in seine Hand, die die Grundlage für die editio princeps des Textes wurde und heute verloren ist[4]. Heiligenkreuz muss überhaupt für Brassicanus‘ Akquisitionspolitik eine herausragende Rolle gespielt habe: er besaß nach momentanem Forschungsstand mindestens zehn Handschriften aus der Stiftsbibliothek. Brassicanus Sammlung gelangte nach seinem Tod an den Wiener Bischof Johannes Fabri (1478-1541)[5]. Fabri stiftete seine Bibliothek, wie auch der am vorderen Innendeckel von ÖNB Cod. 1004 angebrachte Zettel zeigt[6], der von ihm gegründeten Einrichtung für arme Studenten im Nikolauskollegium in der Wiener Singerstraße[7]. Aus der Zeit des Aufenthalts dort stammen wohl auch die Kettenspuren am Hinterdeckel der Handschrift, die in gleicher Weise auf anderen Handschriften und Inkunabeln dieser Provenienz zu finden sind. Später gelangte die Fabri-Bibliothek in die alte Universitätsbibliothek, die 1756 in die Hofbibliothek eingegliedert wurde[8].
Nicht völlig geklärt war bisher die mittelalterliche Provenienz bzw. der Entstehungsort der Handschrift. In seinem Aufsatz „The Commentary on Genesis of Claudius of Turin and Biblical Studies under Louis the Pious“ vermutet Michael Gorman, der sich inhaltlich mehrfach mit ÖNB Cod. 1004 auseinandergesetzt hat, Heiligenkreuz als ehemaligen Besitzer des Codex[9]. Als Hinweis dient ihm eine ausführliche Bücherliste für den Bibliotheksbestand des Stiftes im späten 14. Jahrhundert[10], die unter den Werken Alkuins folgenden Eintrag enthält: Super Genesim, De operibus sex dierum cuiusdam, Explanacio Exodi Vinchwoldi ex libris sanctorum patrum, Explanacio Levitici eiusdem[11]. De mansionibus filiorum Israel[12]. Der Titel des Beda-Werkes stimmt mit der Rubrik Expositio cuiusdam de operibus sex dierum auf fol. 1v von ÖNB Cod. 1004 gut überein, und der obskure Name Vinchwoldi könnte, so Gorman, eine Verschreibung für Wigbodus sein. Tatsächlich wäre eine derartige Verschreibung gerade im Fall der betreffenden Heiligenkreuzer Bücherliste keine Überraschung. Wie schon Gottlieb in seiner selbst nicht ganz fehlerlosen Edition bemerkte, handelt es sich bei den heute erhaltenen neun Blättern um eine zeitnahe Abschrift mit diversen Kopierfehlern.
Ein Vergleich mit der nächsten Rubrik, zu Beginn von Wigbods Genesisauslegung, ist nicht mehr möglich. An dieser Stelle steht heute auf Rasur von der Hand Brassicanus der generische Titel Super Genesim. Tatsächlich ist man jedoch nach den jüngsten Forschungsarbeiten zu Bibliothek und Scriptorium von Heiligenkreuz auf dieses Indiz nicht mehr angewiesen, da die kodikologische und paläographische Untersuchung die Provenienz Heiligenkreuz eindeutig bestätigen können.
Ein Aufenthalt in der Stiftsbibliothek im Spätmittelalter ist durch den kleinen Eintrag 4or auf fol. 131v gesichert (siehe Abb.). Er stammt von der Hand eines Annotators des 15. Jahrhunderts, dessen Einträge mit dicker Feder und tiefschwarzer Tinte in vielen Handschriften der Stiftsbibliothek zu finden sind[13].
Die Handschrift ist überdies mit großer Wahrscheinlichkeit auch im Stift selbst entstanden: Hauptschreiber ist die Hand HLK 62 C[14], die in Cod. 62 (1134-1147) und Cod. 135 (3. Viertel 12. Jh.) der Stiftsbibliothek Heiligenkreuz nachgewiesen werden kann (siehe Abb.). Die genaue Datierung von ÖNB Cod. 1004 hängt von seinem Nachweis in der ersten erhaltenen Heiligenkreuzer Bücherliste ab[15], die wahrscheinlich um 1147 entstanden ist. Unter dem Abschnitt alii libri in dieser Liste findet sich der Eintrag Alcuinus I volumen (Abb. hier). Da ÖNB Cod. 1004 in der Bücherliste des späten 14. Jahrhunderts unter die Werke Alcuins eingeordnet ist, könnte der ältere Eintrag ebenso auf diese Handschrift verweisen. Aufgrund der knappen Beschreibung lässt sich dies jedoch nicht eindeutig beweisen.
In Summe konnte damit eine weitere Handschrift eindeutig Stift Heiligenkreuz zugeordnet werden, vielleicht sogar der frühesten Phase der Stiftsbibliothek.
[1] Katharina KASKA, Untersuchungen zum mittelalterlichen Buch- und Bibliothekswesen im Zisterzienserstift Heiligenkreuz (MA Arbeit an der Universität Wien 2014). Siehe zusammenfassend auch Katharinina KASKA, Neu identifizierte Heiligenkreuzer Handschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Scriptorium. Wesen – Funktion – Eigenheiten. Comité international de paléographie latine, XVIII. Kolloquium. St. Gallen 11.-14. September 2013. Hg. v. Andreas Nievergelt/Rudolf Gamper/Marina Bernasconi/Birgit Ebersperger/Ernt Tremp (München 2015) 391-407.
[2] Zu Forschungen zum Skriptorium Heiligenkreuz siehe die Zusammenstellung von Alois HAIDINGER und Franz LACKNER auf www.scriptoria.at und besonders DIES., Die Bibliothek und das Skriptorium des Stiftes Heiligenkreuz unter Abt Gottschalk (1134 – 1147) (Codices manuscripti et impressi Supplement 11, Purkersdorf 2015).
[3] Zu Brassicanus: Christian GASTGEBER, Art. „Brassicanus (Köl), Johannes Alexander“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520-1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 1 (Berlin-Boston 2011) Sp. 341-347 und mit ausführlicher Literaturliste DERS. , Miscellanea Codicum Graecorum Vindobonensium II: Die griechischen Handschriften der Bibliotheca Corviniana der Österreichischen Nationalbibliothek. Provenienz und Rezeption im Wiener Griechischhumanismus des frühen 16. Jahrhunderts (ÖAW Denkschriften der philosophisch-historischen Klasse 465 = Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 34, Wien 2014) 195-199. Liste der Handschriften aus Brassicanus Besitz von Friedrich SIMADER: http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/kataloge/universitaet/Register.htm.
[4] Siehe zuletzt Lukas DORFBAUER, Der Genesiskommentar des Claudius von Turin, der pseudoaugustinische Dialogus quaestionum und das wisigotische Intexuimus. Revue d’histoire des textes 8 (2013) 269–306.
[5] Ausführlicher Literaturüberblick zu Fabri und seiner Bibliothek in GASTGEBER, Miscellanea (wie Anm. 3) 59f.
[6] Zur Beschreibung von ÖNB Cod. 1004 im Inventar der Fabri-Bibliothek siehe Friedrich SIMADER, Materialien zur Bibliothek des Wiener Bischofs Johannes Fabri, in: Christian GASTGEBER– Elisabeth KLECKER, Iohannes Cuspinianus (1473-1529). Ein Wiener Humanist und sein Werk im Kontext (Singularia Vindobonensia 2, Wien 2012) 267-285, hier 280.
[7] Das Nikolauskollegium wurde ursprünglich für Zisterzienser gegründet, die an der Universität Wien studierten und bestand zwischen 1385 und 1525 (unter Aufsicht des Abtes von Heiligenkreuz). Siehe Ferdinand MAURER, Das Kollegium zum hl. Nikolaus an der Universität in Wien. Beiträge zur Österreichischen Erziehungs- und Schulgeschichte 11 (1909) V-43.
[8] Siehe etwa Josef STUMMVOLL, Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Erster Teil: Die Hofbibliothek (1368-1922) (Museion N.F. 2/3/1, Wien 1968) 240.
[9] Michael M. GORMAN, The Commentary on Genesis of Claudius of Turin and Biblical Studies under Louis the Pious, Speculum 72 (1997) 279-329, hier 304 Anm. 91, wieder abgedruckt in DERS., Biblical Commentaries from the Early Middle Ages (Florenz 2002) 237-287, hier 262 Anm. 91; Er erwähnt die Provenienz auch in: Wigbod and Biblical Studies under Charlemagne. Revue Benedictine 107 (1997) 40-76, hier S. 63 Anm. 73; wieder abgedruckt wie oben S. 200-236, hier 223 Anm. 73.
[10] Ediert in Theodor GOTTLIEB, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs 1: Niederösterreich (Wien 1915, Nachdr. Aalen 1974) 34-74 (online).
[11] Gottlieb liest cuiusdam. Sowohl paläographisch als auch inhaltlich scheint eiusdem jedoch passender: Im Abschnitt Vinchwoldi (S. 62 Z 16-19) heißt es: Explanacio exodi ex verbis sanctorum patrum require in volumine Alquini super genesim. Explanacio Levitici ibidem. De mansionibus filiorum Israel ibidem. Es werden also alle drei Werke „Vinchwoldus“ zugeschrieben
[12] Dabei handelt es sich um Wigbods Expositio Numeri.
[13] Siehe zu ihm KASKA, MA Arbeit (wie Anm. 1) 78.
[14] Die Handbezeichnung folgt der Arbeit von Alois HAIDINGER auf www.scriptoria.at .