Auf der Suche nach noch unbekannten Werken versuchten Forscher bereits im 19. Jahrhundert ihr Glück bei als Makulatur in Einbänden erhalten gebliebenen Fragmenten. Bei der Erforschung wurden beispielsweise als Spiegelblätter eingeklebte Pergamentstücke oft kurzerhand abgelöst, die Trägerbände aber nur selten notiert. Solch zerrissene Überlieferungszusammenhänge sind heute ein Ärgernis der modernen Fragmentenforschung. In Projekten wie jenem zur Erforschung der Fragmente des Klosters Mondsee (gefördert durch GoDigital 2.0 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), dessen Ziel es ist, die Überlieferung aufzuarbeiten und online zur Verfügung zu stellen, können teilweise Trägerbände abgelöster Fragmente ausfindig gemacht werden. Umgekehrt finden sich in den Deckeln oft mehr oder weniger gut lesbare Leimabklatsche entnommener Stücke, für die wiederum nach den „Originalen“ gefragt werden muss.
Einen solchen Fall stellen die Leimabklatsche an den Innenseiten des Vorder- und Hinterdeckels eines Mondseer Codex der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien dar (ÖNB Cod. 4013, F-xhxj)[1]. Sie enthalten das niederländische Lehrgedicht Dietsche doctrinale in einer Abschrift des 14. Jahrhunderts[2]. Eine Recherche nach den Originalblättern in den Beständen der ÖNB war erfolglos, tatsächlich befinden sich die Fragmente heute unter der Signatur Ms. germ. fol. 751, Heft 7/fol. 29f (F-np2j) in der Staatsbibliothek zu Berlin (Rekonstruktion F-7x5c)[3].
Die zwei Blätter tragen den privaten Bibliotheksstempel des bedeutenden Germanisten August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der sich für die altniederländische Sprache besonders interessierte. Er hielt sich – wie auch aus seiner autobiographischen Lebensbeschreibung hervorgeht – 1834 im Lauf einer längeren Forschungsreise auch in Wien auf. Er bearbeitete dort unter anderem gemeinsam mit dem Botaniker und damaligen Skriptor der Hofbibliothek Stephan Endlicher die althochdeutschen „Monseer Fragmente“ in der Hofbibliothek (heute ÖNB Cod. 3093*). Endlicher durchsuche für die kurz danach erschiene Edition des Textes alle Mondseer Handschriften der Bibliothek und stieß dabei wahrscheinlich auch auf das Fragment des Dietsche Doctrinale[4]. Ob Hoffmann von Fallersleben schon zu diesem Zeitpunkt in den Besitz der Blätter kam, ist nicht geklärt. Dass die Fragmente tatsächlich in seinem Besitz waren, geht jedoch auch aus anderen Quellen hervor. Im Jahr 1846 war er gezwungen, seine Privatbibliothek zum Kauf anzubieten; in dem im Druck erschienenen Verkaufskatalog finden sich die Stücke unter der Nummer XXIV.7 (Bruchstücke niederländischer Gedichte des 14.–15. Jahrhunderts) verzeichnet[5]. Seine Bibliothek wurde schließlich nach Berlin verkauft, wodurch der Weg der Fragmente des Dietschen Doctrinale von Wien nach Berlin einigermaßen geklärt ist.
[1] Die Bibliothek des Klosters Mondsee wurde nach dessen Auflösung 1791 zerstreut, die Handschriften kamen mehrheitlich an die Hofbibliothek, heute Österreichische Nationalbibliothek.
[2] Im Abklatsch repräsentiert sind in etwa die Verse 139–236 und 1130–1220 des 3. Buches, der abgeklatschte Text ist aber in sehr schlechtem Zustand, teilweise sind nur einzelne Buchstaben einer Zeile vorhanden.
[3] Gunilla Ljunggren verzeichnet in ihrem Werk zur mittelniederdeutschen Version „Leyen Doctrinal“ auch die fragmentarische Überlieferung des Dietschen Doctrinale. Darunter findet sich auch das damals noch als Depositum in Tübingen gelagerte Berliner Fragment, dessen Text sich zur Hälfte mit jenem in den Wiener Leimabklatschen (die schließlich nur die Hälfte des auf den Originalblättern erhaltenen Textes aufweisen können) deckt, womit ein wichtiger Hinweis auf die korrekte Identifizierung gewonnen wurde. Gunilla Ljunggren, Der Leyen Doctrinal. Eine mittelniederdeutsche Übersetzung des mittelniederländischen Lehrgedichts Dietsche Doctrinale (Lunder Germanistische Forschungen 35, Lund 1963) 26.
[4] [August Heinrich] Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Bd. 2 (Hannover 1868) 246–255; siehe auch: Elke Krotz, Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor. Studien zur Pariser Handschrift, den Monseer Fragmenten und zum Codex Junius 25 (München 2002) 155f.
[5] [August Heinrich Hoffmann von Fallersleben,] Bibliotheca Hoffmanni Fallerslebensis (Leipzig 1846) 48; Eine Identifizierung mit den Leimabklatschen in Wien ist durch die abgedruckten Anfänge der Kapitel eindeutig möglich.
Bildnachweis Berlin: Staatsbibliothek Berlin – PK http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB000033BB00000000