Dass gerade in Archivbeständen des 16./17. Jahrhunderts sehr häufig Handschriftenmakulatur anzutreffen ist, ist kein Geheimnis. Besonders „fragmentträchtig“ sind meist die Rechnungsbücher der diverser Ämter oder Institutionen. Im Idealfall befindet sich die Makulatur noch in situ, so dass die ehemalige, unmittelbare Verbindung zwischen Trägerband und Fragment noch vorhanden ist. Bei abgelösten Fragmenten wurde, vor allem wenn die Ablösung vor der Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte, häufig nicht vermerkt, aus welchem Band diese abgelöst worden waren. Gleichwohl gibt es selbstverständlich auch entsprechende Sammlungen abgelöster Fragmente, bei denen entweder diese Zuordnung vermerkt wurde oder die als ehemaliges Kopert ohnehin die alte Beschriftung des Trägerbandes aufweisen. Diese abgelösten Fragmente befinden sich sozusagen im „provenienzfreien Raum“, eine Zuordnung zum Trägerband und eine eventuelle Zuordnung ihrer Entstehung über den Trägerband ist nicht mehr möglich bzw. nur noch über paläographische, kunsthistorische oder inhaltliche Eigenheiten.
Zur letzteren Kategorie zählen die Fragmente des Doctrinale des Alexander de Villa Dei aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin (vorläufige Einordnung: GStA PK, XX. HA, Hs 132, ohne Signatur).
Im Rahmen der Katalogisierung der in Berlin aufbewahrten liturgischen und nicht-liturgischen Fragmente aus dem Historischen Staatsarchiv in Königsberg fanden sich immer wieder Fragmente aus anderen Beständen im GStA oder ohne konkrete Zuordnung.[1]
Bei den hier vorliegenden Fragmenten handelt es sich um 16 recht kleinformatige Blätter bzw. Doppelblätter aus dem Doctrinale. Eine Mappe mit der Zahlenfolge 34, in welcher sich diese Blätter befanden, steht zumindest nicht für Hs. 34, denn bei der Signatur Hs. 34 handelt es sich um eine Fragmentmappe mit deutschsprachigen Fragmenten. Es wäre höchstens denkbar, dass die abgelösten Grammatikfragmente in dieser Mappe aufbewahrt wurden, obwohl sie in lateinischer Sprache geschrieben waren. Eine Zuordnung zu einem Trägerband hätte aber auch dies nicht zur Folge.
Die 16 Fragmente dienten ursprünglich wohl als Füllung von (einem ?) Buchdeckel(n), worauf ihr einheitlich zugeschnittenes Format auf die Maße des Trägerbandes sowie die starke Verschmutzung durch Klebespuren hindeuten. Auch ihr Beschreibstoff Papier verstärkt diesen Verdacht, denn für die Stabilisierung von Buchdeckeln verwendeten die Buchbinder gerne Papierfragmente.[2] Die einspaltigen Blätter weisen Außenmaße von 205 x 150 mm auf, von denen der Schriftraum 130 x 95 mm einnimmt. Acht der Fragmente weisen ein Wasserzeichen Ochsenkopf mit doppelkonturiger Stange und Schlange auf. Ein ähnliches Wasserzeichen konnte nicht gefunden werden,[3] denn gegenüber den bekannten weist das hier vorliegende einige Abweichungen auf: der Ochsenkopf hat keine Ohren, die Schwanzspitze der Schlange reicht bis in den Bereich der Hörner etc. Einige der dem hier verwendeten entfernt ähnlichen Wasserzeichen sind im übrigen für Preußenland (und andere Regionen) allerdings etwas später nachgewiesen.[4]
Die durchgängig mit 9 Zeilen beschriebenen Seiten zeigen eine gleichmäßige Bastarda aus dem 2. Drittel des 15. Jahrhunderts. Marginale Einfügungen des Schreibers und viele sehr kleine, interlineare Kommentare einer Hand aus dem 4.Viertel des 15. Jahrhunderts sowie marginale Hinzufügungen von mindestens einer jüngeren Hand zeugen von der Korrektur bzw. der ausgesprochen intensiven Benutzung der Handschrift.
Rote Überschriften und einzeilige rote und blaue Lombarden mit geringer schwarzer Verzierung markieren den Beginn neuer Kapitel. Auf den oberen Rändern finden sich gelegentlich die Buchstaben m, n, b, p, s und z, ohne dass sich deren Verwendung ergibt. Bei einem Fragment wurde auf dem oberen Rand von jüngerer Hand die Inhaltsangabe de prima coniugatio vermerkt.
Die hier vorhandenen Fragmente umfassen Ausschnitte aus cap. 2 sowie 4 – 6.[5] Bei den 16 Blättern bzw. Doppelblättern ergibt sich folgende Zusammensetzung innerhalb der ehemaligen Handschrift. Die Fragmente a bis d sind Einzelblätter, die in keinen Lagenverbund gebracht werden können.[6] Das Fragment g (Einzelblatt)[7] gehört zu einer Lage, von dem noch das innerste Doppelblatt (Fragment f)[8] sowie das dritt-innerste Doppelblatt (Fragment e)[9] vorhanden sind. Bei der auf diese im Handschriftenverband folgende Lage hat es sich um ein Senio gehandelt, von dem das innerste Doppelblatt (Fragment n),[10] das folgende 2. Doppelblatt (Fragment l),[11] das 3. Doppelblatt (Fragment k),[12] das 4. Doppelblatt (Fragment j),[13] das 5. Doppelblatt (auseinandergeschnitten als Blatt = Fragment i und o)[14] sowie das 6. Doppelblatt (auseinandergeschnitten als Blatt = Fragment h und p)[15] vorhanden sind. Dem Buchbinder scheinen also aus der Doctrinale-Handschrift mindestens drei aufeinanderfolgende Lagen zur Verwendung als Makulatur vorgelegen zu haben.
Das Doctrinale des Franziskaners Alexander de Villa Dei (* um 1160/70) entstand um 1200 und vermittelt die Grundkenntnisse der lateinischen Grammatik. Es wurde bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus eine der am weitesten verbreiteten Grammatiken und auf vielfältige Weise rezipiert.[16] Schon die Edition von Reichling kennt eine sehr große Anzahl von Handschriften, Inkunabeln und Drucken.[17] Bei den hier vorliegenden Fragmenten sind zumindest gegenüber der Edition einige geringe Abweichungen bemerkbar. So folgt bspw. in Capitulum V auf Zeile 870 Zeile 875, um dann wieder mit Zeile 871 fortzufahren (Abb. 3).[18]
An anderer Stelle ebenfalls in Capitulum V wurden zwischen den Zeilen 988 und 990 zwei zusätzliche, bei Reichling nicht vorhandene Zeilen eingefügt.[19] Ob es sich bei den interlinearen Kommentaren um einen bereits bekannten Kommentator oder um einen (oder mehrere) vermutlich unbekannte(n) Benutzer handelt, bleibt weiterer Forschung vorbehalten.
[1] Zur Bestandsgeschichte vgl. Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg, Ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 3), Göttingen 1955. Bernhart Jähnig, Verlagerung der Königsberger Archivbestände von Göttingen nach Berlin, in: Der Archivar 34 (1981), S. 400-402. Zum Historischen Staatsarchiv Bernhart Jähnig, Jürgen Kloosterhuis (Hg.), Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Gründung des Staatsarchivs Königsberg vor 200 Jahren (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 20), Marburg 2006. Zu den Katalogen vgl. Anette Löffler, Fragmente liturgischer Handschriften des Deutschen Ordens im Historischen Staatsarchiv Königsberg I-III (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung 18, 24 und 28, hg. von Udo Arnold), Lüneburg 2001 und Marburg 2004-2009. In Bälde wird der 4. Band mit den nicht-liturgischen Fragmenten erscheinen.
[2] Zu diesem Problem siehe hier Ekatarina Skvayrs, Das Moskauer Mechthild-Fragment. Neues zur Lesung und zur Zusammenstellung des Kodex, in: Deutsch-russische Arbeitsgespräche zu mittelalterlichen Handschriften und Drucken in russischen Bibliotheken, hg. von Natalia Ganina e.a. (Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 45), Stuttgart 2014, S. 57-90, hier S. 57-64. Generell Armin Schlechter, Fragmente – Vorkommen, Konservierung, Erschließung, in: Alessandra Sorbello Staub (Hg.), „Das Ganze im Fragment“. Handschriftenfragmente aus kirchlichen Bibliotheken, Archiven und Museen, Petersberg 2015, S. 19-34, hier S. 22-26.
[3] Die Ochsenkopf-Wasserzeichen, bearb. von Gerhard Piccard (Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Sonderreihe: Die Wasserzeichenkartei Piccard im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Findbuch II, 1-3) Stuttgart 1966, XVI, 170-243.
[4] Piccard (wie Anm. 3), XVI, 172-174 (Königsberg); XVI, 178 (Königsberg, Neidenburg); XVI, 182 (Thorn); XVI,207 (Elbing).
[5] Dietrich Reichling (Hg.): Das Doctrinale des Alexander de Villa-Dei. Kritisch-exegetische Ausgabe mit Einleitung, Verzeichnis der Handschriften und Drucke nebst Registern (Studies in the history of education 11), Berlin 1893 [Digitalisat dieser Ausgabe], ND New York 1974, hier S. 31 – 33, Z. 437 – 454, S. 38, Z. 555 – S. 42, Z. 604, S. 46, Z. 657 – S. 47, Z. 676, S. 49 – 51, Z. 696 – 731, S. 52, Z. 749 – 766, S. 53, Z. 783 – 798 sowie S. 55 – 67, Z. 814 – 1020.
[6] Fragment a: Z.437 – 454; Fragment b: Z. 555 – 571; Fragment c: Z. 572 – 588; Fragment d: Z. 589 – 604.
[7] Fragment g: Z. 783 – 798.
[8] Fragment f: Z. 696 – 731.
[9] Fragment e: z. 657 – 676 und 749 – 766.
[10] Fragment n: Z.906 – 938.
[11] Fragment l: Z. 886 – 903 und 939 – 954.
[12] Fragment k: Z. 868 – 884 und 954 – 972.
[13] Fragment j: Z. 848 – 866 und 973 – 987.
[14] Fragment i: Z. 828 – 847; Fragment o: Z. 988 – 1003.
[15] Fragment h: Z. 814 – 828; Fragment p: Z. 1004 – 1020.
[16] Philip J. Ford: Alexandre de Villedieu’s Doctrinale puerorum: A medieval bestseller and its fortune in the Renaissance, in: Forms of the “medieval” in the “Renaissance”: A multidisciplinary exploration of a cultural continuum, ed. George Hugo Tucker, Charlottesville 2000, S. 155-171.
[17] Reichling (wie Anm. 5), S. CXXI-CCCIII.
[18] Reichling (wie Anm. 5), S. 58-59.
[19] Reichling (wie Anm. 5), S. 65.