Augustinus von Weilheim und die Wiener Gesera

Die Principia – Einführungsvorlesungenlektüren, bzw. Debatten – an der Theologischen Fakultät der Universität Wien bleiben uns als wahrhaftige Ego-Monumente des Mittelalters. Der Theologe, der mit dieser Textgattung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu unterrichten anfing, spielte darin mit seinem Namen, den er oft in ein Bibelzitat – dieses oft auch ein Leitmotif seiner weiteren Schriften – integrierte; machte Anspielungen auf seine Heimat oder die Stadt Wien; datierte es präzis; schrieb und sogar dekorierte eigenhändig den Text.[1] Im scharfen Gegensatz zu den Kommentaren über Petrus Lombardus´ Sentenzen in vier Büchern besitzen die Principia eine anspruchsvolle, gleichsam gotische Struktur bestehend aus: (1) sermo (recommendatoria),2) quaestio bestehend aus articulus positivus, der propositiones, conclusiones und Korollarien enthält; articulus collativus oder articuli collativi, in denen man mit den socii streitet; 3) actio gratiarum;4) und die protestatio(nes), die die Übereinstimmung der eigenen Thesen mit der katholischen Doktrin behaupten und in den Statuten verlangt sind[2]. Da es um Debatten geht, werden darin systematisch die gleichzeitig Lehrenden genannt und ihre Thesen zitiert[3]. Die Principia widerspiegeln die Vielfalt der doktrinalen Fragestellungen. Man streitet in ihnen, um nur einige Beispiele zu nennen, um die akzidentelle Freiheit der Engel, das Buch des Lebens, das Erfahrungswissen Christi, Embryonen, materia prima, und die Latitudo der Taufgnade. Principia zitieren neben traditionellen Autoritäten des lateinischen Christentums den griechischen Philosoph Aristoteles und seine verschiedenen Werke[4]. In diesem Beitrag möchte ich auf einen weiteren Aspekt der Principia hinweisen, nämlich auf die darin überlieferten historisierenden Angaben. Diese hängen mit dem stark autobiographischen Aspekt der Gattung und einer Aufmerksamkeit, die Ereignissen an der Theologischen Fakultät gewidmet ist, zusammen. Die Jahrzehnte, die in die Principia besonders einfließen, waren eine hektische und dunkle Zeit der Geschichte.

Dietrich oder Theoderich Rudolfi von Hammelburg liefert dafür ein erstes Beispiel. Hammelburg hat über Petrus Lombardus´ Sentenzen im Biennium 1411-1412 gelesen. Die dazugehörigen Principia hat er mit genauer Datierung und historischen Details versehen. In ÖNB, cod. 4593, fol. 112v erwähnt er zum Ende seines zweiten Principium, dass im Jahr 1412 Johannes Berwart von Villingen gestorben sei (durch „malignibus“ – Villingen wurde ermordet). Hammelburg gibt das genaue Datum der Ermordung nicht an, das auch sonst unbekannt ist. Er erwähnt es wahrscheinlich, weil er Villingen auf der Reise nach Rom, nach der dieser auf dem Rückweg starb, begleitet hatte. Im nächsten Principium unterscheidet er das Datum der Abfassung des Textes vom Datum des Vortrags: „Anno domini m.cccc.12 in die sancti Mauri scriptus. In scolis vero factum est hoc principium anno eodem die sancti Gotthardi cum magister meus R(everendus) Lampertus esset in Ungeria.“ Dass Lambert von Geldern 1412 von der Universität Wien abwesend war, bestätigen die Fakultätsakten, wobei dort der Aufenthaltsort nicht angegeben wird[5]. Nur Dietrichs Explicit entnehmen wir, dass sich Lambert von Geldern im Jahr 1412 in Ungarn aufgehalten hat, nachdem er im Jahr 1411 von Kaiser Sigismund zum Probst von Ofen ernannt worden war[6].

Ein zweites Beispiel liefern die Principia von Augustinus von Weilheim. Augustinus Ayrimsmalz von Weilheim, Bruder des Abtes Konrad Ayrimsmalcz von Tegernsee, las 1448-1449 über die Sentenzen an der Wiener Theologischen Fakultät vor. Seine Principia sind in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18700, fol. 197r-235v überliefert, wohin sie aus dem Besitz der Bibliothek der Tegernseer Benediktinerabtei gelangten[7].

München, BSB, Clm 18700, Vorderdeckel mit Titel – und Signaturschild

In Lambach, Benediktinerstift, Cod. 220, 21v-33r sind die parallelen Thesen von Johannes von Lambach OSB zu den Principia von Weilheim zu finden: Johannes von Lambach OSB debattiert dort mit ihm, während die Gegenthesen von Weilheim in Clm 18700, fol. 225r-230v stehen. Im Vergleich zu Dietrich von Hammelburg hat Augustinus von Weilheim seine Principia mit übergenauer Datierung versehen: die Explicit erwähnen nicht nur das doppelte Datum des Vortrags und der Abschrift, sondern schließen manchmal sogar die Stunde der Fertigstellung eines Principium mit ein. Außerdem scheint Weilheim ein Interesse für historische Details zu pflegen. So erwähnt er auf fol. 217v, dass im Jahr 1448 sich der Tegernseer Abt in Wien aufenthielt. Für das Jahr 1449 führt er auf, dass das „Haus Österreich“ von König Friedrich (wohl dem III.) geführt war. Hier fügt er ein weiteres Detail hinzu:

Explicit des 2. Principium zum 3. Buch der Sentenzen
 
„Im Jahr 1425 des Herren, am Tag des Heiligen Gregorius, wurden die Juden in Wien verbrannt (wortwörtlich: eingeäschert), die nicht zum Glauben konvertieren wollten.“

Weilheim[8] datiert hier den letzten, grausamsten Akt der Judenverfolgung, die in den Jahren 1420-1421 in Wien stattgefunden hatte, und an der sich auch die Theologische Fakultät der Universität Wien beteiligt hatte. Doch während seine zeitgenössischen Bemerkungen genau sind, ist seine Vergangenheit verstellt. Weilheim hat den Tag der Gesera – das Fest des Papstes Gregorius fiel auf den 12. März – richtig aufgezeichnet, aber das Jahr falsch geschrieben: 1425 anstatt von 1421. Es mag sein, dass er sich das Datum nicht richtig gemerkt hat, wahrscheinlicher ist aber, dass er aus einer Vorlage falsch kopiert; „1“ kann nämlich leicht mit „5“ verwechselt werden. Beides würde aber heißen, dass 28 Jahre später das historische Ereignis der Judenverfolgung in Österreich nicht mehr genau wahrgenommen wurde. Weilheim, der in seinen Principia das Hauptgewicht auf die Idee der Inkarnation legte, nimmt es als Bestätigung seiner theologischen Inhalte auf. Was wiederum heißt, dass 28 Jahre später die Gesera noch immer als Rechtfertigung dienen konnte, ohne bedauert zu werden.

Augustinus von Weilheims Wortwahl der Einäscherung ist erschütternd. Aus der Ferne des Jahres 1449 erinnert es uns daran, dass wir nicht aufhören dürfen, uns zu erinnern[9].


[1] Siehe William J. Courtenay, From Dinkelsbühlʼs Questiones Communes to the Vienna Group Commentary. The Vienna ‘Schoolʼ, 1415–1425, in M. Brînzei (Hrsg.), Nicholas of Dinkelsbühl and the Sentences at Vienna in the Early Fifteenth Century (Turnhout 2015), S. 287–291, und meinen früheren Beitrag „Sentences Commentaries from the Early University of Vienna under the Palaeographical Magnifying Glass“ (25.2.2016). Für die scherzhafte Integrierung des Egos in Principia, siehe Ueli Zahnds online-Repertorium: https://puns.zahnd.be/themata.php (23.1.2023). Siehe auch die Datenbank DEBATE, die Daten, Namen, Thesen, usw. zu principia sammelt: https://database.debate-erc.com/jspui/ (9.2.2023)

[2] In Wien, ÖNB, cod. 4713, 64v bemerkt Peter von Pulkau, dass Johannes Berwart von Villingen alleine in einem Teil seiner Principia 10 conclusiones aufgestellt hat. Weiters gibt es subarticulus, propositio annexa, sowie corollarium responsivum.

[3] Für die Rekonstruktion der Thesen beider Teilnehmer in der Debatte anhand von einem einzigen Principium an der Universität Wien siehe beispielweise Edit A. Lukács, „Contuli cum magistro meo reverendo Nicholao de Dinckelspuhel in tribus principiis meis“. Die Principia des Walter von Bamberg OCarm aus 1400-1402, Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 29 (2018): 479-504.

[4] Von Aristoteles werden u. a. die Physik, Über den Himmel, Politik, Topik, die Nikomachische Ethik, die Metaphysik zitiert; beinahe alle Werke, mit der bemerkenswerten Abwesenheit der logischen Traktate.

[5] Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, ed. P. Uiblein (Wien 1978), Bd. I, S. 20 (Eintragung für 1412 I). Hammelburg erwähnt noch eine Bezahlung im Explicit. Geldsachen waren tatsächlich bis in die nächsten Jahre diskutiert: Paul Uiblein, Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen (Wien 1999), S. 355, Anm. 22.

[6] Ulrike Denk, „Lambert Sluter von Geldern“, https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/lambert-sluter-von-geldern-mag-art-prof-theol (26.1.2023).

[7] Paul Uiblein erwähnt die Handschrift München, BSB, Clm 18700 (online unter: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb00140305) aufgrund von Virgil Redlich, Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (München 1931), S. 30, Anm. 113, bezüglich eines Konflikts, der Augustinus´ parallele Aktivität an der Artisten- und Theologischen Fakultät entsprang, nämlich: „Item magister Augustinus de Weilheim actu legens Sentencias disputavit questiones Priorum et fuit prohibitus per facultatem et quod ammodo nullus legencium in theologia simul legat aut disputet publice in artibus aliquem librum.“ Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, Bd. I, S. 234; Bd. II, S. 515, Anm. 89. Redlich nennt Augustinus´ Principia „genau datierte Prüfungsfragen“ (Das Titelschild nennt „principia plura“. Eine andere Bezeichnung für Principia war die prolusio bzw. prolusiones; manche Principia wurden unter dieser Benennung in moderne Kataloge aufgenommen.) Zu Augustinus von Weilheim, siehe https://resource.database.rag-online.org/ngQG2j971Q079fmYkPJfa, 13.02.2023.

[8] „Principium hoc secundum in tertium sententiarum librum proferi Ego Augustinus de weilheim domino incarnato cooperante In vigilia Iohannis waptiste Anno domini 1449 Regente tunc Romanorum rege friderico de domo Austrie. Anno domini 1425 in die Sancti Gregorii fuerunt incinerati iudei in wienna [propter … …] nolentes ad fidem converti.” (Ich folge der Groß- und Kleinschreibung des Originals, die interessante Einzelheiten enthüllt, wie z.B. das Ego.) Weilheim hat über der Zeile noch ein Detail hinzugefügt, das nicht lesbar ist. Die Verbrennung hat in Wien auf der Gänseweide stattgefunden, wo gewöhnlich die Todesstrafen durch Verbrennung stattfanden. Für den neuesten Beitrag und eine neue These zu den politischen Motivationen der Wiener Gesera siehe Petr Elbel und Wolfram Ziegler, „Die österreichischen Juden als Opfer von religiösem Fanatismus – oder eines machtpolitischen Kalküls? Der Verlauf und die Hintergründe der Wiener Gesera (1420/21)“, in M. Theisen (Hrsg.), Gotteskrieger. Der Kampf um den rechten Glauben rund um Wien im 15. Jahrhundert (Klosterneuburg 2022), S. 71-78.

[9] Dieser Beitrag ist aus Forschungen für das ERC Projekt DEBATE Nr. 771589, PI: Monica Brînzei, entstanden. Inspiriert wurde es durch die Initiative „We Remember. Learn From The Past. Protect The Future“, der sich in Januar 2023 auch das österreichische Parlament angeschlossen hat.

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