Eine Handschrift aus der Burgbibliothek Kreuzenstein (Beobachtungen aus Auktions- und Antiquariatskatalogen I)

In einer vom Auktionshaus Christie’s für den Zeitraum 1. bis 16. Oktober 2020 angesetzten Online-Auktion wird als lot 84 ein „Austrian chained binding“ angeboten, das ein 1440 datiertes Papiermanuskript, enthaltend einen Traktat aus dem Umkreis der Universität Wien und Predigten, umschließt.

Die online zugängliche Beschreibung ist freilich, was die Besitzgeschichte der Handschrift betrifft, nicht ganz akkurat, und sie lässt sich außerdem in einem wichtigen Punkt ergänzen.

Zur „Provenance“ der Handschrift heißt es: „Piarists of Vienna (early inscription) – Johann Ernst von Jamaigne (1648-1719, Protonotary Apostolic in Waidhofen an der Thaya; engraved armorial bookplate) – Sotheby’s, 15 December 1953, lot 106 (bought through Offenbacher) – Cornelius J. Hauck (his sale, Christie’s New York, 27 July 2006, lot 106).“
Nun waren die Piaristen von Maria Treu in Wien unzweifelhaft Eigentümer der Handschrift, wie der auch in der Beschreibung erwähnte Besitzvermerk zeigt:

Christie’s, Katalog lot 84, f. 1r (Ausschnitt)

Allerdings befand sich die Handschrift erst ab 1719 in den Händen der Piaristen, deren Wiener Niederlassung sich damals auch erst in Errichtung befand. Der derzeit erste bekannte Besitzer war vielmehr der von Christie’s an zweiter Stelle genannte Weltpriester Johann Ernst Jamaigne (Jamagne), der seine Bibliothek den Wiener Piaristen vermacht hatte. Jamaigne – sein Name findet sich in zahlreichen Schreibweisen, von denen auch nicht alle in der GND erfasst sind – wurde 1648 wahrscheinlich in Wien geboren und ist am 10. Dezember 1719 als Pfarrer und Dechant von Waidhofen an der Thaya verstorben. Seit 1673 war er Priester und zunächst als Vikar (in dieser Zeit erwarb er außerdem ein Doktorat der Universität Padua) und dann Pfarrer in Altpölla tätig. Er war ein engagierter Seelsorger, Prediger und Autor – außerdem besaß er aber eine stattliche Sammlung mittellalterlicher Handschriften. Auf diesen Aspekt seiner Biographie[1] wird vielleicht einmal in einem anderen Iter-Beitrag eingegangen werden. Hier sind sein Name und die Erwähnung der Wiener Piaristenbibliothek aber vor allem ein Hinweis auf den nächsten Besitzer der Handschrift, der in der Katalogbeschreibung leider unterschlagen wird.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute der österreichisch-ungarische Adelige, Abenteurer und Philantrop Graf Johann Nepomuk Wilczek (1837-1922) die Ruine der in der Nähe von Korneuburg bei Wien gelegenen Burg Kreuzenstein wieder auf und richtete sie als Museum für seine umfangreichen Sammlungen ein.

Kreuzenstein (Postkarte 1868, gemeinfrei, Wikipedia Commons)
Kreuzenstein (Aufnahme 2015, Anna Saini [Wikipedia Commons, CC BY-SA 4.0])

Zu diesen Sammlungen gehörte auch eine Bibliothek mit einem nicht unbedeutenden Bestand an mittelalterlichen Handschriften und Inkunabeln, deren wesentlichen Bestandteil die von Wilczek zu einem leider nicht genau bekannten Zeitpunkt erworbenen Handschriften der Wiener Piaristenbibliothek bildeten. Einen ausführlichen Überblick über den Handschriftenbestand hat Franz Lackner 1999 veröffentlicht[2]; ein von ihm am 1. März 2000 erstelltes Update der Handschriftenliste findet sich hier.

Dass sich die derzeit bei Christie’s angebotene Handschrift tatsächlich in der Kreuzensteiner Bibliothek befunden hat, lässt sich sicher nachweisen. Den Angaben im Auktionskatalog zufolge enthält der Codex zunächst den Tractatus de duodecim partibus fidei des Magister Nicolaus de Gretz. Dieser Text kann nach seinem Initium Dilectissimi quicumque homo habens usum rationis vult venire in regnum celeste … unschwer genauer identifiziert werden als die Expositio symboli apostolorum des Nicolaus de Graetz. Der Autor dieses in zahlreichen Handschriften überlieferten Textes (Stegmüller, RB 5813 und Ergänzungsband) ist Nikolaus von Graz , der im Sommersemester 1415 an der Universität Wien immatrikuliert wurde und sein gesamtes weiteres Leben in Wien verbrachte. Nach dem Erwerb des Magistergrades der Artes (1421) begann er ein Studium der Theologie, das er 1439 mit dem Erwerb des Doktorats bekrönte. Schon am 28. September 1436 wurde er als Kanoniker des Kapitels von St. Stephan installiert. Vor dem 4. Oktober 1441 ist er verstorben[3].

Auf Blatt 96v, nach dem Ende der Expositio, findet sich ein mit 17. Februar 1440 datierter Schreibervermerk: Explicit tractatus de duodecem [!] partibus fidei, finitus feria tertia proxima post festum Valentini per manus Petri Bawtz moraui de Olomuntz, Anno domini etc. 40.

Christie’s Katalog lot 84, f. 96v

Im – kodikologisch eine ursprünglich selbstständige Einheit gewesenen – zweiten Teil der Handschrift (f. 97-406) ist der Winterteil einer Predigtsammlung überliefert, deren genauere Bestimmung der Auktionskatalog nicht bietet und die aufgrund unzureichender Anhaltspunkte auch hier nicht versucht werden kann.

Einen sicheren Hinweis auf die Bibliothek der Burg Kreuzenstein liefert die auf einem auf dem Hinterdeckel aufgeklebten Papierschild eingetragene Nummer 5874, die auch mit Bleistift auf f. 1r vermerkt ist.


Diese Nummer verweist auf den einzigen derzeit bekannten Gesamtüberblick über den Inhalt der Kreuzensteiner Sammlung, ein um 1910 erstelltes gedrucktes Inventar über den „Fideikommiss Burg Kreuzenstein“. Die wie alle Einträge extrem knapp gehaltene Angabe zur Nummer 5874 lautet „Nicolaus de Grätz I, Man., Pap., XV., Folio“[4] und stimmt somit mit dem Inhalt des bei Christie’s angebotenen Bandes überein.

Nur nebenbei sei erwähnt, dass Ms. 5874 einer der beiden Trägerbände der Fragmente des sogenannten Kreuzensteiner Passionsspieles ist, die der Germanist Joseph Strobl, der viele Jahre lang als Bibliothekar für Graf Wilczek tätig war, ausgelöst und veröffentlicht hatte, bevor sie 1915 bei einem Brand in Kreuzenstein vernichtet worden sind[5].

Zum Schluss soll noch auf einen Aspekt der Handschrift hingewiesen werden, der aus der Sicht des Auktionshauses wohl besonders attraktiv ist – der Codex ist ein Kettenband: „Intact codices from medieval chained libraries are extremely rare at auction“. Ohne dazu ein abschließendes Urteil äußern zu können, sind hier allerdings gewisse Vorbehalte angebracht. Es ist auffällig, dass viele aus der Kreuzensteiner Bibliothek stammende Handschriften Kettenbände sind – so etwa die vier Bände des sogenannten Kreuzensteiner Legendars (seit 1992 Wien, ÖNB Cod. Ser. n. 35753 – dieser Band ist digitalisiert, 35754, 35755 und 35756). Schon Walter Jaroschka und Alfred Wendehorst haben in ihrem 1957 veröffentlichten Aufsatz über das Legendar festgestellt, daß Wilczek die Bände „wie auch einige andere Handschriften seiner Bibliothek durch Anbringung von Ketten am hinteren Rückendeckel zu einem liber catenatus adaptieren“ ließ[6] und damit die Ketten ins 19. Jahrhundert datiert.

Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 35753, Hinterdeckel

Graf Wilczek versuchte mit dem Wiederaufbau von Kreuzenstein nichts weniger als die perfekte mittelalterliche Burg zu verwirklichen; die darin beherbergte Bibliothek sollte eine perfekte mittelalterliche Bibliothek sein – mit angeketteten Bänden. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Ketten an den Kreuzensteiner Handschriften nicht aus dem Mittelalter stammen, sondern das Ergebnis historistischen Gestaltungswillens sind. Aber zur abschließenden Klärung dieser Frage sind weitere vergleichende Untersuchungen notwendig, die durch die außerordentlich betrübliche Zerstreuung der Bibliothek sehr erschwert sind.


Nachtrag 18.10.2020: die Handschrift wurde für 25000 $ (inkl. „buyer’s premium“) verkauft. Falls jemandem die erwerbende Institution / Person bekannt ist, bin ich für eine Mitteilung (Email) sehr dankbar.


[1] Einen knappen Überblick gibt Uwe Harten, Art. „Jamaigne, Johann Ernst (Jean Ernest) von (de)‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, https://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_J/Jamaigne_Johann.xml (1.10.2020).

[2] Franz Lackner, Handschriften aus der Burg Kreuzenstein in der Österreichischen Nationalbibliothek (Codices Ser. n. 31.373, 32.850, 35.704, 35.746, 35.753-35.756 und 38.978), in: Codices manuscripti Heft 27/28 ( September 1999) 9-36.

[3] Sein akademischer Lebenslauf ist übersichtlich hier zusammengefasst: Nikolaus de Greczz super Mura (RAG-ID: ngND2Y678Nl46cjdhMmc0) (6.10.2020). Einen Überblick über ihm zugeschriebene Werke gibt Xystus Schier, Specimen Styriae literatae (Wien o. J. [c. 1769]) (ÖNB-Digitalisat) p. 6. Vgl. auch Joseph Aschbach, Geschichte der Universität Wien im ersten Jahrhunderte ihres Bestehens (Wien 1865) p. 467-469 (Digitalisat) sowie Hermann Göhler, Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu St. Stephan in Wien 1365-1554. Hrsg. v. Johannes Seidl, Angelika Ende und Johann Weißensteiner (Wien / Köln / Weimar 2015) 296 Nr. 157.

[4] Eingesehen wurde das unter der Signatur G 505 in der Bibliothek des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten verwahrte Exemplar.

[5] Joseph Strobl, Kreuzensteiner Passionsspiel, in: Joseph Strobl, Aus der Kreuzensteiner Bibliothek. Studien zur deutschen Literaturgeschichte (Wien 1907) 3-23 (Digitalisat) (auch, mit gleicher Paginierung, Halle 1909, Digitalisat).

[6] Walter Jaroschka – Alfred Wendehorst, Das Kreuzensteiner Legendar. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Hagiographie des Spätmittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65 (1957) 369-418, hier 370. Auch Franz Lackner lässt in seiner Beschreibung des Ms. 5667 im Katalog der Datierten Handschriften in Niederösterreichischen Archiven und Bibliotheken (online zugänglich hier) leise Zweifel erkennen, ob die Reste der am Einband vorfindlichen Kette original sind.

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