Neue Funde zum Schrifttum von Heinrich von Langenstein
„Merke es: Unser allerheiligster Papst Nikolaus V hat dieses Buch vergangenes Jahr in Frankfurt gesehen, als er noch weder Kardinal, noch Papst war, und er hat mir, Nikolaus, geschrieben, dass die Engländer dieses Buch sehr rühmen, und dass es hier, wie es an mehreren Stellen offenkundig ist, in einer Verkürzung vorliegt, und dass Meister Heinrich von Hesse in seinem Werk über die Genesis viel gegen das Anliegen des Schreibers geschrieben hat.“
Diese Notiz, die der deutsche Gelehrte Nikolaus Cusanus 1447 in einen seiner Kodizes eingetragen hat,[i] schildert eine bislang unbekannte Verknüpfung. Sie beschreibt zwei Schlüsselwerke des europäischen Spätmittelalters als polemisierend miteinander verbunden: den Traktat De causa Dei (1344) von Thomas Bradwardine und den Genesiskommentar (1385-1397) von Heinrich von Langenstein. Der Mathematiker und Theologe an der Universität Oxford, Thomas Bradwardine (c. 1290-1349) argumentierte in seinem theologischen Hauptwerk De causa Dei gegen die Verteidiger der Autonomie und Freiheit des menschlichen Willens, indem er dessen Abhängigkeit von Gott und Freiheit vertrat.[ii] Der in Paris studierte deutsche Gelehrte Heinrich von Langenstein (1325-1397) griff Bradwardines Thesen in seinen Vorlesungen über die Bibel an der Universität Wien fünfzig Jahre später heftig an. Bradwardines Werk war damit neben Oxford und Paris auch in der Hauptstadt des Habsburgerreiches Gegenstand lebhafter Diskussion, theoretischen Widerstands und damit Teil der intellektuellen Tradition. Dass genau Langensteins Auseinandersetzung dem Italiener Tommaso Parentucelli hundert Jahre nach dem Erscheinen von De causa Dei und ein halbes Jahrhundert nach dem Ende von Langensteins Vorlesung über das Buch Genesis relevant erschien, zeigt den westeuropäischen Einfluss des magnum opus von Langenstein.[iii] Es ist gleich festzuhalten, dass die Erwähnung von Langensteins Auseinandersetzung mit Bradwardine darauf hinweist, dass der bibliophile und belesene Papst den ganzen Genesiskommentar gelesen hat, und zugleich einen Teil, der heute nur in wenigen Handschriften überliefert ist.
Der letzte Teil des Genesiskommentars nimmt hinsichtlich der Kontinuität des Texts und auch in der Überlieferung einen besonderen Platz ein. Er stört den Aufbau des Werkes, scheint nicht mehr zu Langensteins Vorlesung zu gehören, hat keinen exegetischen Inhalt, wird daher meist nicht mehr kopiert. Nimmt man die autographen Handschriften, die der Bibliothek des Collegium ducale gehörten und heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt sind, die an der Universität Wien vorgelesen wurden und die die Vorlagen für spätere Abschriften bildeten, ist der Genesiskommentar um zwei Bände länger: Codizes 4657 und 4718 kommentieren nicht mehr den Bibeltext, obwohl sporadische Hinweise auf den exegetischen Kontext nicht fehlen. Im gedruckten Katalog der ÖNB tragen beide Bände den Titel einer quasi-Theodizee: Commentaria de origine mali et de peccatis.[iv] Doch das Explizit in Cod. 4718 entspricht dem Explizit anderer, vollständiger Reihen des Genesiskommentars.[v] Außerdem steht in Cod. 4718 der Schlussvermerk auf fol. 183v–184r: “Hec ultima lectio scripta et non lecta nec correcta per venerabilem virum magistrum Henricum de Hassia.”[vi] Codices 4657 und 4718 gehören also auch zum Genesiskommentar, und müssen im Katalog auch den Titel Commentarius in Genesim tragen. Eine genaue Betrachtung dieser Handschriften, des Texts selbst und eine zusätzliche Angabe weisen aber auf die Existenz von zwei bislang unbekannten Traktaten in diesem Teil des Genesiskommentars von Langenstein hin.[vii] Dieser Beitrag möchte die zwei Traktate zum ersten Mal als zum Schrifttum von Heinrich von Langenstein gehörend beschreiben.
Der Genesiskommentar von Langenstein ist ein Hexaemeron, der nur das Schöpfungswerk und nicht das ganze Buch Genesis auslegt; genauer, ein Kommentar über Genesis 1:1 bis 3:19. Gemäß der Methode der Bibelauslegung im 14. Jahrhundert an der Universität Wien, wird die Hermeneutik der Bibelstelle aufgeführt, worauf Fragen – scholastische quaestiones – folgen, die einen thematischen Bezug zur Bibelstelle haben. Mit dieser Methode hört Langenstein in Cod. 4657 auf; es folgt ein rein theoretischer Teil, wo keine Bibelstelle mehr ausgelegt wird. In diesem Teil lassen sich rasch separate Traktate identifizieren, die an den Rändern mit ihren Titeln angegeben werden. Der erste ist der Tractatulus de somniis, derLangensteins Interesse an kognitiven Prozessen beim Menschen bezeugt: er beschreibt die Entstehung von Träumen, Prophezeiungen, Täuschungen, Visionen, Phantasmen.[viii] Auf diesen ca. achtzig Folia langen Teil folgt in Cod. 4657 ein deutlich längerer, der auf fol. 103r oben wie folgt eingeführt wird: “Sequitur Incipit volumen de necessitate fatali.”
Laut diesem Hinweis, der vielleicht als Vormerkung für eine nicht ausgeführte Rubrik diente, beginnt also ein neuer Abschnitt im Genesiskommentar, und zwar kodikologischer, nicht inhaltlicher Art. Doch im Text der Vorlesung selbst werden Rückverweise nicht auf einen „Band“ (volumen), sondern auf einen Traktat (tractatus) De necessitate fatali gemacht.[ix] Weiters bestätigt eine andere frühe Kopie des Genesiskommentars die Existenz eines Tractatus de necessitate fatali.
Cod. 4830 der ÖNB ist eine in mehrfacher Hinsicht interessante Handschrift. Hier, auf fol. 2v ist das letzte Zitat aus der Genesis noch als „unser Text“ bezeichnet: “De hoc in textu nostro […] Sudore vultus tui vesceris […] et in cinerem reverteris.” Der Tractatulus de somniis fängt auf fol. 26r an; der Tractatus de necessitate fatali auf fol 121r. Auf dem Titelschildchen des Einbandes – die Handschrift gehörte der Rosenburse, der zweitgrößten Bibliothek der frühen Universität nach der des Collegium ducale – wird nur der letztere verzeichnet:
Außer diesen Hinweisen kennen wir keine Handschrift, die den Traktat De necessitate fatali – oder den Tractatulus de somniis – überliefern würde. Der Traktat De necessitate fatali selbst ist trotz des gewundenen Aufbaus sehr elaboriert. Präzise Hinweise auf die darin entfalteten Argumente findet man bereits in früheren Bänden des Genesiskommentars. Es ist daher eine plausible Hypothese, dass Langenstein an diesem Traktat schon in seinen Wiener Jahren gearbeitet hat, und ihn in seine späteren Vorlesungen über die Bibel aufgenommen hat. Da der Traktat als Teil des Genesiskommentars eine Überlieferung fand, hatte es keine Bedeutung mehr, frühere Arbeitskopien aufzuheben – sie sind daher nicht überliefert worden.
Neben dieser unwichtigen Hypothese ist es sicher, dass die
Auseinandersetzung mit Thomas Bradwardine, die Papst Nikolaus V gekannt und
Nikolaus Cusanus berichtet hat, hier und an keiner anderen Stelle des
Bibelkommentars von Heinrich von Langenstein die Hauptmotivation bildet. Deren
Kontext, der Tractatus de necessitate
fatali, ist eine außergewöhnliche Schrift.[x]
Er ist nicht nur von faszinierender historischer Reichweite und von einer in
scholastischen Texten seltenen rhetorischen Kraft; er überrascht vor allem mit
seiner philosophischen Originalität. Der Tractatus
de necessitate fatali ist zweifellos ein wichtiger neuer Text für die
deutsche Philosophie des Mittelalters.
[i] Bernkastel an der Mosel, Hospital zu Cues, MS 93, fol. 164v. Nur der erste Vermerk, der unmittelbar nach Textende steht, ist in der Hand des Nicolaus Cusanus geschrieben. Er hat bereits das Interesse der Forschung, wohl nur vorläufig, erweckt: P. Moffitt Watts, Nicolaus Cusanus. A Fifteenth-Century Vision of Man, Leiden: Brill, 1982, 17, n. 29; C. Bianca, ‘Niccolò Cusano e la sua biblioteca: note, ‘notabilia’, glosse’, in E. Canone (Hrsg.), Bibliothecae selectae da Cusano a Leopardi, Firenze: Leo S. Olschki, 1993, 7–9. Tommaso Parentucelli weilte zum Reichstag in September-Oktober 1446 in Frankfurt; die Notiz von Cusanus ist nach seiner Wahl zum Papst am 6.3.1447 entstanden: E. Meuthen (Hrsg.), Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Cusanus, Hamburg: Felix Meiner, 1983, Bd. I Lieferung 2, 537.
[ii] Zu den verschiedenen Versionen und der handschriftlichen Überlieferung des De causa Dei in Österreich siehe E. A. Lukács, ‘Die Handschriften von Thomas Bradwardines Traktat De causa Dei in Österreich’, Codices manuscripti & impressi 99/100 (2015): 3–10. Als Tommaso Parentucelli in Rom zum Papst gewählt wurde, besaß er in seiner Bibliothek gleich zwei Handschriften von Bradwardines De causa Dei, von denen die eine, Vat. lat. 1038, vorher Papst Gregor XII und Papst Eugen IV gehört hatte. Nikolaus V war also der dritte Papst in der Reihe von Päpsten, die Thomas Bradwardine lasen. Nikolaus’ V. eigenes Exemplar von De causa Dei ist in Vat. lat. 1040 enthalten: A. Manfredi, I codici latini di Niccolò V. Edizione degli inventari e identificazione dei manoscritti, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, 1994, 278-279, 302.
[iii] Ein weiteres, wichtiges Element des westeuropäischen Einflusses von Langenstein bildet die Handschrift Gießen, Universitätsbibliothek, Cod. 779, die von Gabriel Biel, einst Mitglied der Butzbacher Gemeinde, annotiert wurde: J. Ott, Die Handschriften des ehemaligen Fraterherrenstifts St. Markus zu Butzbach in der Universitätsbibliothek Gießen, Gießen: Universitätsbiblithek Gießen, 2004, Bd. II, 155.
[iv] Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, Wien: Academia Caesarea Vindobonensis, 1869 (Ndr. Graz 1965) Bd. III. Der irreführende Titel im Katalog der ÖNB, der lange daran glauben ließ, dass diese Handschriften nicht zur Genesisauslegung gehören, deutet richtig auf den Inhalt der philosophischen Beschäftigung von Langenstein und ihre Nähe zur Theodizee von Leibniz hin. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen,Berlin: Akademie Verlag, 1996.
[v] Zu diesen siehe K. Fostyak, ʻAusgewählte Gesamtausgaben des Genesiskommentars des Heinrich von Langenstein († 1397)ʼ, online Veröffentlichung des FWF Projekts P31893 https://langenstein.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_langenstein/Ausgewaehlte_Gesamtausgaben_des_Genesiskommentars__Heinrich_von_Langenstein_-_Aufbau_und_Gliederung_anhand_ausfuehrlicher_Incipit-_und_Explicitlisten.pdf (12.3.2021).
[vi] Zu Cod. 4718 und anderen autographen Handschriften des Genesiskommentars siehe M. Shank, ʻAcademic Benefices and German Universities during the Great Schismʼ, Codices manuscripti 7 (1981): 33-47.
[vii] Die von Thomas Hohmann etablierte Liste von Langensteins Werken dient immer noch als Referenz: Th. Hohmann, ʻInitienregister der Werke Heinrichs von Langensteinʼ, Traditio 32 (1976): 399-426. Neues zum Schrifttum von Langenstein wurde zuletzt mit der Zuschreibung von vier Predigten an Langenstein geliefert: F. P. Knapp, ‘Die ältesten aus dem deutschen Sprachraum erhaltenen Judenbekehrungspredigten’, MIÖG 109 (2001): 105-117 (auch hier spielt Wien, ÖNB, Cod. 4830 eine bedeutende Rolle); und zu Langensteins Pariser Zeit: M. Brînzei und Ch. Schabel, ʻHenry of Langensteinʼs Principium on the Sentences, His Fellow Parisian Bachelors, and the Academic Year 1372-73ʼ, Vivarium 58 (2020): 335-346.
[viii] Basel, Universitätsbibliothek, A-X-44, fols. 86r-87r überliefert Ausschnitte aus diesem kurzen, spannenden Traktat – bzw. dem Genesiskommentar – von Heinrich von Langenstein. Zu dieser Handschrift siehe das RISE Projekt, das eine online zugängliche Transkription des ganzen Codex vorbereitet: https://rise-ubb.com/ (14.3.2021).
[ix] “[…] ut superius circa principium huius tractatus de necessitate fatali ostensum fuit.” In der online zugänglichen Kopie aus dem Benediktinerstift in Mondsee, ÖNB, Cod. 3902, findet sich dieser Hinweis auf fol 224rb: https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc=DTL_7892639&order=1&view=SINGLE (14.3.2021).
[x] Mehr zur Struktur und Thesen im Traktat von Heinrich von Langenstein folgt in E.A. Lukács, Divine Knowledge, the Bible, and the Sentences at the University of Vienna (1384-ca. 1420), in Vorbereitung. Dieser Iter Austriacum Beitrag ist aus Forschungen zum FWF Projekt V356-G19 „Oxforder Theologie an der Universität Wien“ entstanden.