Handschriftentransfer im Hochmittelalter: eine Heiligenkreuzer Handschrift in Vorau

Mit der immer weiter fortschreitenden Erfassung zisterziensischer Scriptorien durch Alois Haidinger auf www.scriptoria.at wird der Forschung ein wichtiges Werkzeug zur Untersuchung der klösterlichen Netzwerke im Hochmittelalter zur Verfügung gestellt. Neben ausführlichen Schreiberauswertungen mit reichem Bildmaterial bietet die Website nach dem letzten Update nun auch Analysen der Ausstattung der Bände. Für ein breiteres Forschungspublikum relevant sind die bisher an keiner anderen Stelle publizierten ausführlichen Handschriftenbeschreibungen sowie die über 100 Volldigitalisate von Handschriften der Stiftsbibliothek Heiligenkreuz: auf www.manusripta.at scheinen lediglich 20 ältere Digitalisate mit vorwiegend germanistischem Bezug auf. Die Inhalte auf www.scriptoria.at werden ergänzt durch Digitalisate Heiligenkreuzer Handschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek sowie zahlreiche Digitalisate aus der Stiftsbibliothek Rein (ein Digitalisat auf www.manuscripta.at). Dank dieses reichen Quellenmaterials kann nun auch ein hochmittelalterlicher Handschriftentransfer aus Heiligenkreuz in das steirische Chorherrenstift Vorau nachgewiesen werden.

Vorau Cod. 170 wird im Handschriftenkatalog von Pius Fank als Collectaneum auctoritatum bezeichnet und in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert. Der 68 Blatt umfassende Band ist offensichtlich unvollständig: die erste Kustode auf fol. 8v lautet XII, die letzte XX. Der Einband des Codex mit senkrecht beschnittenen dicken Holzbrettern und einem flachen Rücken ist allerdings romanisch, sodass es sich um einen sehr frühen (den ursprünglichen?) Bindungszustand handelt. Der Rücken zeigt Spuren einer wohl ebenfalls romanischen Beschriftung.

Abbildung 1: Vorau Cod. 170 Einband

Ein Vermerk am Vorderdeckelspiegel weist die Handschrift eindeutig als hochmittelalterlichen Vorauer Besitz aus: hunc librum a Bernhardo preposito, sancte marie, sanctoque Thome et uorovvensi ecclesie collatum qui abstulerit anathema sit. Darüber findet sich ein Lagenvermerk viii q. et dim., der die heutige Lagenstruktur der Handschrift beschreibt. Beide Einträge sind typisch für die hochmittelalterlichen Bibliotheken von Vorau und Seckau und zeugen von Propst Bernhard, der beiden Klöstern vorstand und in Urkunden und Handschriften nachzuweisen ist[1]. Die Einträge in Cod. 170 weisen eine deutlich schwungvollere Schrift auf als dies bei vielen ähnlichen Besitzvermerken Bernhards üblich ist und sind vergleichbar mit dem Eintrag in Vorau Cod. 195.  Weiter oben am Blatt befand sich einst wohl ein ähnlicher, heute jedoch fast vollständig radierter Vermerk, der ein Vertreter des etwas gesetzteren Schrifttyps ist, wie er etwa in Vorau Cod. 276 oder auch in Seckauer Handschriften auftritt. Sichtbar sind noch das Ende der Lagenformel et dim. und darunter que sowie einige Buchstabenreste (siehe dazu weiter unten).

Abbildung 2: Vorau Cod. 170, VDS: Besitz- und Lagenvermerk Bernhards von Seckau/Vorau

Trotz dieser frühen Besitzvermerke ist die Handschrift mit sehr hoher Wahrscheinlich nicht in Vorau oder für Vorau entstanden, sondern im Zisterzienserstift Heiligenkreuz um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Der Hauptschreiber des Bandes ist jene Hand, die auch den Großteil der zweiten kodikologischen Einheit der Heiligenkreuzer Handschrift Wien, ÖNB, Cod. 830 schreibt und von Alois Haidinger in seiner Schreiberdatenbank www.scriptoria.at als Hand B bezeichnet wird. Kleinere Einschübe in der Handschrift stammen vom Heiligenkreuzer Schreiber HLK 122 A. Auf einen zisterziensischen Ursprung des Bandes deuten überdies die zahlreichen punctus flexus hin.

Abbildung 3: Vorau Cod. 170, fol. 25r: Schriftproben

Es ist möglich, dass Vorau Cod. 170 bereits in der ersten erhaltenen Heiligenkreuzer Bücherliste aus der Mitte des 12. Jahrhunderts genannt wird[2]. Paläographisch spricht nichts gegen diese Zuordnung, da sich beide Schreiber in Handschriften der Bücherliste nachweisen lassen[3]. Zwei, allerdings wenig konkrete, Einträge könnten mit der Handschrift in Verbindung stehen. Bisher nicht zuordenbar war Item excerpta in duobus paribus libellis. Wenn Vorau Cod. 170, der mit Kustode XII beginnt, seit seinem Transfer aus Heiligenkreuz kodikologisch nicht verändert wurde, könnte es sich um den zweiten Teil der in der Bücherliste genannten Exzpertsammlung handeln. Ob man den Band mit 68 Blatt und festem Einband aber als libellus bezeichnen würde, ist schwer zu beurteilen. Die übliche Bezeichnung in der Liste ist volumen, einzige eine weitere, allerdings verlorene Handschrift mit mehreren Texten wird ebenfalls als libellus bezeichnet. Akzeptiert man die Identifikation und nimmt einen direkten, unveränderten Transfer nach Vorau an, bietet dies eine interessante Perspektive für die Geschichte der Heiligenkreuzer Einbände. Bei zwei Heiligenkreuzer Bänden (Cod. 79 und 111) sprechen die sehr dicken, am Bund nicht abgeschrägten Holzbretter für eine Entstehung im 12. Jahrhundert, auch wenn die Stempel einer Gruppe des 15. Jahrhunderts zugeschrieben werden[4]. Hier böte sich nun die Vorauer Handschrift als Vergleichsobjekt für die Einbandtechnik an.

Die Bücherliste bietet aber noch eine weitere Identifikationsmöglichkeit. Der Eintrag Item sentencie diversorum in unum collecte wird von Alois Haidinger und Franz Lackner in ihrem Band zur frühen Heiligenkreuzer Bibliothek vorsichtig und ohne Überzeugung als „Cod. 153 (?)“[5] identifiziert. Deutlich besser als auf diese Handschrift, die mit einer ausführlichen Expositio in apocalypsin beginnt, passt die inhaltliche Beschreibung jedoch auf Vorau Cod. 170, der ausschließlich aus kurzen Exzerpten besteht. In der Bücherliste wird jedoch eindeutig von einem Band gesprochen, während in Vorau nur der zweite Teil einer umfangreicheren Handschrift überliefert ist. Hier müsste man also annehmen, dass die Handschrift zu einem (wenig) späteren Zeitpunkt geteilt und umgebunden wurde. Völlig unwahrscheinlich ist dies in Hinblick auf die Benutzbarkeit nicht. Nimmt man die für diese Zeit in Heiligenkreuz typischen Lagen von vier Doppelblättern an, fehlen aus dem ersten Teil 88 Blätter und der Band hatte in Summe 156 Blätter – für die relativ geringe Größe der Handschrift ein sehr großer Umfang. Gleichzeitig macht dies aber auch wahrscheinlicher, dass die Handschrift schon ursprünglich in zwei Bände geteilt war und damit eher mit den vorher genannten pares libelli identifiziert werden kann.

Wie und warum gelangte die Handschrift aber nach Vorau? Durch den Besitzvermerk ist ein ungefährer terminus ante quem mit dem letzten Nachweis Bernhards 1202 gegeben. Von Bernhard sei, so der Besitzvermerk, der Codex der Vorauer Kirche collatus und damit übertragen worden. Es findet sich also kein Hinweis darauf, dass sie im Auftrag Bernhards kopiert wurde, wie man es in anderen Handschriften antrifft (z.B. Vorau Cod. 276 que Wolcangus scripsit iubente Bernhardo preposito…). Der Vorauer Propst muss daher Kontakte zu Heiligenkreuz gehabt haben, die ihm den Erwerb ermöglichten.

Tatsächlich finden sich noch an anderen Stellen Hinweise auf solche Beziehungen. Heiligenkreuz Cod. 91, ein sicher im frühen Scriptorium des Stifts entstandener Band[6], trägt einen typisch Bernhardinischen Lagenvermerk auf fol. 195v. In der Bibliothek von Seckau befanden sich bereits zu Bernhards Zeit als Propst zwei Bände einer Bibel, die vom Schreiber HLK 98 A kopiert wurden[7], der in Heiligenkreuz und Zwettl arbeitete (Graz UB, Cod. 65 (mit Lagenvermerk) und Cod. 68). Ob die von Salzburger Malern ausgestatteten Handschriften[8] für Seckau oder in Seckau angefertigt wurden oder aus einer der zisterziensischen Bibliotheken stammten, lässt sich nicht feststellen.

Ein Kontakt von Bernhard nach Heiligenkreuz und ein anschließender Handschriftentransfer könnte auch den bereits erwähnten radierten Besitzvermerk erklären. Er stammt offensichtlich von Bernhards Hand. Wenn es ein Vorauer Besitzvermerk gewesen wäre, wäre eine Rasur wohl nicht nötig gewesen. Eine Möglichkeit wäre ein Aufenthalt zunächst in Seckau, wo Bernhard ebenfalls Propst war, und danach erst in Vorau. Aus dem eben erwähnten Lagenvermerk in einer Heiligenkreuzer Handschrift eröffnet sich allerdings noch eine weitere Perspektive: ein Besitzvermerk von Bernhards Hand für ein anderes Kloster. Tatsächlich sind solche Bernhardinischen Besitz- und Lagenvermerke aus mehreren Klöstern bekannt[9]:

  • Lambach (OSB): ÖNB Cod. Ser. n. 3605[10] (partiell radierter Besitzvermerk und Lagenvermerk)
  • St. Lambrecht (OSB): Graz, Universitätsbibliothek, Cod. 297 (Besitzvermerk für St. Lambrecht), Cod. 454[11] (Inhaltsangabe, abweichende Schrift!) und Cod. 1046 (Besitzvermerk für St. Lambrecht)
  • Admont (OSB): Admonst, Stiftsbibliothek, Cod. 529 (Lagenvermerk und Besitzvermerk für Admont in urkundenähnlicher Schrift)[12]
  • Rein (OCist): Rein, Stiftsbibliothek, Cod. 20 (Besitzvermerk für Rein) und Cod. 59 (Besitzvermerk für Rein)[13], Warschau, Biblioteka Narodowa, Ms 8014 II (Lagenvermerk[14] und radierter Besitzvermerk?)

Wie für  Heiligenkreuz Cod. 91 ist auch die Entstehung von Rein Cod. 59 im besitzenden Kloster gesichert und bei Rein Cod. 20 durch die Schriftstilisierung zumindest sehr wahrscheinlich[15]. Ebenso ist die heute in der ÖNB aufbewahrte Lambacher Handschrift vermutlich im Stift selbst entstanden[16]. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der in Vorau Cod. 170 radierte Besitzvermerk einen Hinweis auf Heiligenkreuz enthielt. Wie man sich allerdings die Eintragung der Vermerke vorzustellen hat, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise entlieh Bernhard die Handschriften, um sie für Seckau oder Vorau kopieren zu lassen[17], was sich allerdings bisher nicht auf philologischer Ebene nachweisen ließ. Möglich wäre auch ein Aufenthalt Bernhards in den genannten Bibliotheken.

Für den Moment muss zwar vieles zu Bernhards Tätigkeit als Bibliothekar und Bucherwerber offen bleiben, eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Bernhard konnte sich eines breiten Netzwerks bedienen, das Ordens- und Landesgrenzen überwand und ihm die Erwerbung von Vorau Cod. 170 möglich machte.


[1] Zu Bernhard ausführlich Pius Fank, Die Vorauer Handschrift. Ihre Entstehung und ihr Schreiber. Mit 75 Schriftproben auf 16 Tafeln (Graz 1967), besonders 21-46 und zuletzt Hans Zotter, Scripta manent: das romanische Skriptorium des Augustiner-Chorherrenstiftes Seckau in der Steiermark (Graz 2020) 294-297 und 69-71; kritisch zu einigen Urkundenzuweisungen Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum dritten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs (1156–1182). In: Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 17 (2016) 28–75, hier 70-74 und Roman Zehetmayer, Auf dem Weg zur Fürstenkanzlei. Das Beispiel der Herzogtümer Österreich und Steiermark. In: Archiv für Diplomatik 64 (2018) 177–216, hier 196f;

[2] Theodor Gottlieb, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs I: Niederösterreich (Wien 1915, Nachdruck Aalen 1974) 19-21.

[3] Siehe zu den Schreibern der Bücherliste Alois Haidinger – Franz Lackner, Die Bibliothek und das Skriptorium des Stiftes Heiligenkreuz unter Abt Gottschalk (1134/1147) (Codices Manuscripti et Impressi, Supplementum 11, Purkersdorf 2015) sowie die Datenbank www.scriptoria.at

[4] Diskussion bei der Beschreibung von Cod. 19 von Franz Lackner, Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 90.

[5] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 16

[6] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33. Paläographische Beschreibung von Alois Haidinger: https://www.scriptoria.at/cgi-bin/scribes.php?ms=AT3500-91

[7] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33.

[8] Ebd.

[9] Wo nicht explizit genannt bereits in Fank, Vorauer Handschrift (wie Anm. 1).

[10] Zu dieser Handschrift siehe zukünftig ausführlich den im Druck befindlichen Aufsatz Katharina Kaska – Christoph Egger, Und immer wieder Lambach – Überlegungen zur Überlieferung der Werke des Honorius im österreichischen Raum (Vortrag bei der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Theologische Mediävistik (IGTM)
17./18. Juni 2022).

[11] Maria Mairold, Ein Urkundenschreiber hinterläßt in steirischen Klosterbibliotheken seine Spuren. In: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 48 (1998) 413–416 (Digitalisat), hier 414.

[12] Mairold, Urkundenschreiber (wie Anm. 11) 414 mit Abbildung.

[13] Beide ebd.

[14] Darunter stark radiert, sodass ein etwaiger Besitzvermerk verloren ist. Die Handschrift beschrieben in Herad Spilling, Lateinische Pergamenthandschriften österreichischer Provenienz in der der polnischen Nationalbibliothek (Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 846, Wien 2014) 360-2, wo der Lagenvermerk erwähnt, aber nicht eingeordnet wird.

[15] Siehe auf www.scriptoria.at unter den jeweiligen Signaturen: Cod. 20 und Cod. 59.

[16] Lisa Fagin Davis, The Gottschalk Antiphonary: Liturgy and Music in Twelfth-Century Lambach (Cambridge studies in palaeography and codicology 8) (Cambridge 2000) 32 schreibt die Handschrift der Lambacher Hand B zu. In Einzelformen stimmt die Schrift überein, der Duktus und die häufige Verwendung des tironischen et unterscheidet Cod. Ser. n. 3603 jedoch von den anderen Werken des Schreibers.

[17] Diese Vermutung für Cod. 91 geäußert in Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33 mit Anm. 125.

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