Die Principia – Einführungsvorlesungenlektüren, bzw. Debatten – an der Theologischen Fakultät der Universität Wien bleiben uns als wahrhaftige Ego-Monumente des Mittelalters. Der Theologe, der mit dieser Textgattung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu unterrichten anfing, spielte darin mit seinem Namen, den er oft in ein Bibelzitat – dieses oft auch ein Leitmotif seiner weiteren Schriften – integrierte; machte Anspielungen auf seine Heimat oder die Stadt Wien; datierte es präzis; schrieb und sogar dekorierte eigenhändig den Text.[1] Im scharfen Gegensatz zu den Kommentaren über Petrus Lombardus´ Sentenzen in vier Büchern besitzen die Principia eine anspruchsvolle, gleichsam gotische Struktur bestehend aus: (1) sermo (recommendatoria),2) quaestio bestehend aus articulus positivus, der propositiones, conclusiones und Korollarien enthält; articulus collativus oder articuli collativi, in denen man mit den socii streitet; 3) actio gratiarum;4) und die protestatio(nes), die die Übereinstimmung der eigenen Thesen mit der katholischen Doktrin behaupten und in den Statuten verlangt sind[2]. Da es um Debatten geht, werden darin systematisch die gleichzeitig Lehrenden genannt und ihre Thesen zitiert[3]. Die Principia widerspiegeln die Vielfalt der doktrinalen Fragestellungen. Man streitet in ihnen, um nur einige Beispiele zu nennen, um die akzidentelle Freiheit der Engel, das Buch des Lebens, das Erfahrungswissen Christi, Embryonen, materia prima, und die Latitudo der Taufgnade. Principia zitieren neben traditionellen Autoritäten des lateinischen Christentums den griechischen Philosoph Aristoteles und seine verschiedenen Werke[4]. In diesem Beitrag möchte ich auf einen weiteren Aspekt der Principia hinweisen, nämlich auf die darin überlieferten historisierenden Angaben. Diese hängen mit dem stark autobiographischen Aspekt der Gattung und einer Aufmerksamkeit, die Ereignissen an der Theologischen Fakultät gewidmet ist, zusammen. Die Jahrzehnte, die in die Principia besonders einfließen, waren eine hektische und dunkle Zeit der Geschichte.
Dietrich oder Theoderich Rudolfi von Hammelburg liefert dafür ein erstes Beispiel. Hammelburg hat über Petrus Lombardus´ Sentenzen im Biennium 1411-1412 gelesen. Die dazugehörigen Principia hat er mit genauer Datierung und historischen Details versehen. In ÖNB, cod. 4593, fol. 112v erwähnt er zum Ende seines zweiten Principium, dass im Jahr 1412 Johannes Berwart von Villingen gestorben sei (durch „malignibus“ – Villingen wurde ermordet). Hammelburg gibt das genaue Datum der Ermordung nicht an, das auch sonst unbekannt ist. Er erwähnt es wahrscheinlich, weil er Villingen auf der Reise nach Rom, nach der dieser auf dem Rückweg starb, begleitet hatte. Im nächsten Principium unterscheidet er das Datum der Abfassung des Textes vom Datum des Vortrags: „Anno domini m.cccc.12 in die sancti Mauri scriptus. In scolis vero factum est hoc principium anno eodem die sancti Gotthardicum magister meus R(everendus) Lampertus esset in Ungeria.“ Dass Lambert von Geldern 1412 von der Universität Wien abwesend war, bestätigen die Fakultätsakten, wobei dort der Aufenthaltsort nicht angegeben wird[5]. Nur Dietrichs Explicit entnehmen wir, dass sich Lambert von Geldern im Jahr 1412 in Ungarn aufgehalten hat, nachdem er im Jahr 1411 von Kaiser Sigismund zum Probst von Ofen ernannt worden war[6].
Ein zweites Beispiel liefern die Principia von Augustinus von Weilheim. Augustinus Ayrimsmalz von Weilheim, Bruder des Abtes Konrad Ayrimsmalcz von Tegernsee, las 1448-1449 über die Sentenzen an der Wiener Theologischen Fakultät vor. Seine Principia sind in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18700, fol. 197r-235v überliefert, wohin sie aus dem Besitz der Bibliothek der Tegernseer Benediktinerabtei gelangten[7].
In Lambach, Benediktinerstift, Cod. 220, 21v-33r sind die parallelen Thesen von Johannes von Lambach OSB zu den Principia von Weilheim zu finden: Johannes von Lambach OSB debattiert dort mit ihm, während die Gegenthesen von Weilheim in Clm 18700, fol. 225r-230v stehen. Im Vergleich zu Dietrich von Hammelburg hat Augustinus von Weilheim seine Principia mit übergenauer Datierung versehen: die Explicit erwähnen nicht nur das doppelte Datum des Vortrags und der Abschrift, sondern schließen manchmal sogar die Stunde der Fertigstellung eines Principium mit ein. Außerdem scheint Weilheim ein Interesse für historische Details zu pflegen. So erwähnt er auf fol. 217v, dass im Jahr 1448 sich der Tegernseer Abt in Wien aufenthielt. Für das Jahr 1449 führt er auf, dass das „Haus Österreich“ von König Friedrich (wohl dem III.) geführt war. Hier fügt er ein weiteres Detail hinzu:
Explicit des 2. Principium zum 3. Buch der Sentenzen
„Im Jahr 1425 des Herren, am Tag des Heiligen Gregorius, wurden die Juden in Wien verbrannt (wortwörtlich: eingeäschert), die nicht zum Glauben konvertieren wollten.“
Weilheim[8] datiert hier den letzten, grausamsten Akt der Judenverfolgung, die in den Jahren 1420-1421 in Wien stattgefunden hatte, und an der sich auch die Theologische Fakultät der Universität Wien beteiligt hatte. Doch während seine zeitgenössischen Bemerkungen genau sind, ist seine Vergangenheit verstellt. Weilheim hat den Tag der Gesera – das Fest des Papstes Gregorius fiel auf den 12. März – richtig aufgezeichnet, aber das Jahr falsch geschrieben: 1425 anstatt von 1421. Es mag sein, dass er sich das Datum nicht richtig gemerkt hat, wahrscheinlicher ist aber, dass er aus einer Vorlage falsch kopiert; „1“ kann nämlich leicht mit „5“ verwechselt werden. Beides würde aber heißen, dass 28 Jahre später das historische Ereignis der Judenverfolgung in Österreich nicht mehr genau wahrgenommen wurde. Weilheim, der in seinen Principia das Hauptgewicht auf die Idee der Inkarnation legte, nimmt es als Bestätigung seiner theologischen Inhalte auf. Was wiederum heißt, dass 28 Jahre später die Gesera noch immer als Rechtfertigung dienen konnte, ohne bedauert zu werden.
Augustinus von Weilheims Wortwahl der Einäscherung ist erschütternd. Aus der Ferne des Jahres 1449 erinnert es uns daran, dass wir nicht aufhören dürfen, uns zu erinnern[9].
[1] Siehe William J. Courtenay, From Dinkelsbühlʼs Questiones Communes to the Vienna Group Commentary. The Vienna ‘Schoolʼ, 1415–1425, in M. Brînzei (Hrsg.), Nicholas of Dinkelsbühl and the Sentences at Vienna in the Early Fifteenth Century (Turnhout 2015), S. 287–291, und meinen früheren Beitrag „Sentences Commentaries from the Early University of Vienna under the Palaeographical Magnifying Glass“ (25.2.2016). Für die scherzhafte Integrierung des Egos in Principia, siehe Ueli Zahnds online-Repertorium: https://puns.zahnd.be/themata.php (23.1.2023). Siehe auch die Datenbank DEBATE, die Daten, Namen, Thesen, usw. zu principia sammelt: https://database.debate-erc.com/jspui/ (9.2.2023)
[2] In Wien, ÖNB, cod. 4713, 64v bemerkt Peter von Pulkau, dass Johannes Berwart von Villingen alleine in einem Teil seiner Principia 10 conclusiones aufgestellt hat. Weiters gibt es subarticulus, propositio annexa, sowie corollarium responsivum.
[3] Für die Rekonstruktion der Thesen beider Teilnehmer in der Debatte anhand von einem einzigen Principium an der Universität Wien siehe beispielweise Edit A. Lukács, „Contuli cum magistro meo reverendo Nicholao de Dinckelspuhel in tribus principiis meis“. Die Principia des Walter von Bamberg OCarm aus 1400-1402, Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 29 (2018): 479-504.
[4] Von Aristoteles werden u. a. die Physik, Über den Himmel, Politik, Topik, die Nikomachische Ethik, die Metaphysik zitiert; beinahe alle Werke, mit der bemerkenswerten Abwesenheit der logischen Traktate.
[5]Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, ed. P. Uiblein (Wien 1978), Bd. I, S. 20 (Eintragung für 1412 I). Hammelburg erwähnt noch eine Bezahlung im Explicit. Geldsachen waren tatsächlich bis in die nächsten Jahre diskutiert: Paul Uiblein, Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen (Wien 1999), S. 355, Anm. 22.
[7] Paul Uiblein erwähnt die Handschrift München, BSB, Clm 18700 (online unter: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb00140305) aufgrund von Virgil Redlich, Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (München 1931), S. 30, Anm. 113, bezüglich eines Konflikts, der Augustinus´ parallele Aktivität an der Artisten- und Theologischen Fakultät entsprang, nämlich: „Item magister Augustinus de Weilheim actu legens Sentencias disputavit questiones Priorum et fuit prohibitus per facultatem et quod ammodo nullus legencium in theologia simul legat aut disputet publice in artibus aliquem librum.“ Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, Bd. I, S. 234; Bd. II, S. 515, Anm. 89. Redlich nennt Augustinus´ Principia „genau datierte Prüfungsfragen“ (Das Titelschild nennt „principia plura“. Eine andere Bezeichnung für Principia war die prolusio bzw. prolusiones; manche Principia wurden unter dieser Benennung in moderne Kataloge aufgenommen.) Zu Augustinus von Weilheim, siehe https://resource.database.rag-online.org/ngQG2j971Q079fmYkPJfa, 13.02.2023.
[8] „Principium hoc secundum in tertium sententiarum librum proferi Ego Augustinus de weilheim domino incarnato cooperante In vigilia Iohannis waptiste Anno domini 1449 Regente tunc Romanorum rege friderico de domo Austrie. Anno domini 1425 in die Sancti Gregorii fuerunt incinerati iudei in wienna [propter … …] nolentes ad fidem converti.” (Ich folge der Groß- und Kleinschreibung des Originals, die interessante Einzelheiten enthüllt, wie z.B. das Ego.) Weilheim hat über der Zeile noch ein Detail hinzugefügt, das nicht lesbar ist. Die Verbrennung hat in Wien auf der Gänseweide stattgefunden, wo gewöhnlich die Todesstrafen durch Verbrennung stattfanden. Für den neuesten Beitrag und eine neue These zu den politischen Motivationen der Wiener Gesera siehe Petr Elbel und Wolfram Ziegler, „Die österreichischen Juden als Opfer von religiösem Fanatismus – oder eines machtpolitischen Kalküls? Der Verlauf und die Hintergründe der Wiener Gesera (1420/21)“, in M. Theisen (Hrsg.), Gotteskrieger. Der Kampf um den rechten Glauben rund um Wien im 15. Jahrhundert (Klosterneuburg 2022), S. 71-78.
Die vollständige Onlinestellung der Admonter Riesenbibel in der Österreichischen Nationalbibliothek (zwei Bände als ÖNB Cod. Ser. n. 2701 und 2702)[1] soll zum Anlass genommen werden, auf bisher nicht beachtete Hinweise zu ihrer Geschichte aufmerksam zu machen.
Abbildung 1: Anbetung des goldenen Kalbs (ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 4)
Weite Teile der Biographie der bedeutenden Handschrift lassen sich gut belegen: Kunsthistorisch ist die Entstehung der reich ausgestatteten Bände in Salzburg um die Mitte des 12. Jahrhunderts anzunehmen[2]. Spätestens ab etwa 1200 wurde die Bibel in St. Peter zu Csatár in Westungarn (Bistum Veszprém) aufbewahrt. Darauf deuten eine Abschrift einer Urkunde des Klosters, Notizen zu Schenkungen (beides Cod. Ser. n. 2701 fol. 52r [54r]), sowie ein Reliquienverzeichnis (ebd. fol. 3r) hin. Etwas später kam die Handschrift als Pfand nach St. Adrain in Zala (ebd. fol. 3r)[3]. Durch Besitzvermerke lässt sie sich schließlich im 15. Jahrhundert im steirischen Kloster Admont nachweisen, von dem sie aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Stifts 1937 an die Nationalbibliothek verkauft wurde[4].
Noch nicht endgültig geklärt ist die Geschichte der Bibel zwischen ihrer Anfertigung und dem Transfer nach Ungarn. László Mezey untersuchte 1981 Hymnen, die im zweiten Band auf fol. 3r–7r, 10rv, 11r, 12r am Seitenrand nachgetragen wurden[5]. Inhaltlich lassen sich die Hymnen dem zisterziensischen Gebrauch zuordnen, womit Mezey annahm, dass die Riesenbibel vor ihrer Verbringung nach Ungarn eine Zwischenstation in einem Zisterzienserkloster gemacht haben müsse[6]. Bei der Suche nach dem konkreten Kloster zieht er Heiligenkreuz in Niederösterreich und Rein in der Steiermark als Möglichkeit in Betracht. Heiligenkreuz scheint ihm die Voraussetzung engerer Kontakte nach Ungarn besser als Rein zu erfüllen. Einerseits habe der Konvent aufgrund von zu geringer Dotation überlegt, einem Angebot Bélas II. folgend, nach Ungarn zu übersiedeln, andererseits gründete Heiligenkreuz 1142 die Abtei Cikádor in Ungarn (Bistum Pecs).
In jüngerer Zeit beschäftigte sich Robert Klugseder wieder mit den nachgetragenen Hymnen[7]. Er weist sie als vollständiges zisterziensisches Hymnar aus, ordnet nun allerdings die Notation Ungarn zu: Es handle sich um das früheste Beispiel der Graner-Notation. Dieselbe Notation verwenden die etwas später eingetragenen fragmentarischen Antiphonae per annum, die aber in benediktinischer Tradition stehen. Klugseder geht daher davon aus, dass beide Nachträge in Csatár entstanden sind, und zwar unter Verwendung einer Zisterzienserhandschrift als Vorlage für das Hymnar. Er hält die Notation für ein Zisterzienserkloster für unvorstellbar und schließt damit Heiligenkreuz als Zwischenstation der Handschrift auf ihrem Weg nach Ungarn „definitiv aus“[8].
Diesem so vehement geäußerten Schluss stehen nun zwei neue paläographische Beobachtungen entgegen: die nachträgliche Interpunktion, die die Handschrift zur Lesung vorbereitet, sowie der Hauptkorrektor im ersten Band.
An mehreren Stellen der Handschrift lässt sich der Punctus flexus nachweisen, wie er als Zeichen für eine kurze Pause im Vortrag von den Zisterziensern verwendet wird[9]. Im Haupttext und auch bei den im 12. Jahrhundert angebrachten Korrekturen auf Rasur[10] wurde die Interpunktion meist nachgetragen (z.B. erster Band fol. 48r). Auf dem vollständig vom Hauptkorrektor des ersten Bandes geschriebenen fol. 262 (265) ist das Zeichen zumindest teilweise vom Schreiber eingetragen[11]. Die Interpunktion weist also darauf hin, dass die Admonter Riesenbibel für die Lesung in einem Zisterzienserkloster überarbeitet wurde[12]. Diese Überarbeitung geschah nach der im Folgenden diskutierten Korrektur, lässt sich aber zeitlich bisher nicht eindeutig einordnen.
Abbildung 2: Einrichtung zur Lesung Cod. ser. n. 2701, fol. 165raAbbildung 3: Nachgetragener Punctus flexus auf Korrektur auf Rasur in ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 48ra
Auf die Zisterzienser deutet auch die Hand des Hauptkorrektors hin, die sich zweifelsfrei identifizieren lässt: Es handelt es sich um den im 1133 gegründeten Zisterzienserstift Heiligenkreuzer mehrfach nachweisbaren Schreiber HLK 122 A. Sehr charakteristisch für seine Hand ist die Form der et-Ligatur mit einer Schleife aus dem Kopf und einem Knick mit verdicktem Ende im Fuß. Ebenso stechen z.B. die Minuskel-x mit starkem Knick im nach links unten führenden Schaft hervor. Die Schriftstilisierung entspricht nicht dem bayerisch-österreichischen Raum, sondern weist auf das Mutterland des Ordens hin. Außer der namensgebenden Handschrift Heiligenkreuz Cod. 122 konnte dem Schreiber bisher nur ein Beitrag in Heiligenkreuz Cod. 289 zugewiesen werden. In beiden Handschriften wirkt er als Textschreiber und beide weisen weitere Schreiber mit französischer (burgundischer?) Schriftstilisierung auf[13].
Abbildung 4: Korrekturen von HLK 122 A in ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 55ra
Dass HLK 122 A tatsächlich in Heiligenkreuz tätig war, zeigt vor allem die älteste erhaltene Originalurkunde für Heiligenkreuz, die 1136 von Bischof Reginmar von Passau ausgestellt wurde und als Empfängerausfertigung von seiner Hand stammt[14]. Als weiterer Hinweis kann auch seine Verwendung des bajuwarischen z gelten (siehe Abbildung 5). In der Admonter Riesenbibel finden wir HLK 122 A nun als Korrektor einer jedenfalls in Österreich hergestellten Handschrift, womit er einerseits eine neue Rolle im Skriptorium übernimmt, andererseits noch einmal sicherer in Österreich lokalisiert werden kann.
Trotz dieser Schreiberidentifikation wird man sich hüten, die These von László Mezey sicher bestätigt zu sehen, dass die Admonter Riesenbibel in Heiligenkreuz aufbewahrt wurde. Wie jüngste Untersuchungen zeigen, ist im 12. Jahrhundert ein Schreiberaustausch zwischen Mutter- und Tochterkloster bei den österreichischen Zisterziensern häufiger nachweisbar[15], ebenso kommt es zum Austausch mit anderen Zisterzen und sogar mit Klöstern anderer Orden[16]. Während die Interpunktion gegen eine Korrektur außerhalb des Zisterzienserordens spricht, müssen andere Zisterzienserklöster, besonders aus der Filiation Heiligenkreuz, als Zwischenstationen der Handschrift zumindest in Betracht gezogen werden.
Neben dem Mutterkloster selbst sind dies auf österreichischem Boden die Zisterzen Zwettl (gegründet 1138) und Baumgartenberg (1141/2-1783), aus denen größere Buchbestände erhalten sind. Die sekundären Aufzeichnungen zum Buchbestand der drei Klöster helfen bei der Zuweisung nicht weiter. Die Bücherlisten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts aus Heiligenkreuz[17] und Zwettl[18] erwähnen keine Bibeln im Bibliotheksbestand, weil diese wie auch die liturgischen Bücher an anderer Stelle (in der Sakristei?) aufbewahrt wurden. Die Baumgartenberger Bücherliste aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts nennt Quatuor partes bibliothece[19] und damit offensichtlich nicht die heute zweibändige Riesenbibel. Zum Zeitpunkt der Erstellung der Bücherliste wäre die Riesenbibel jedoch ohnehin nicht mehr in der Baumgartenberger Bibliothek sondern bereits in Kloster Csátar gewesen. Tatsächlich hatte nicht nur, wie bereits angeführt, Heiligenkreuz Beziehungen zu Ungarn, sondern auch das oberösterreichische Tochterkloster. Friedrich, ein Begleiter Ottos von Freising und der erste Abt von Baumgartenberg, wurde Bischof in Hungaria[20]. Allerdings lässt sich der Schreiber HLK 122 A im Gegensatz zu zahlreichen anderen Heiligenkreuzer Schreibern bisher nicht in Baumgartenberg nachweisen, sodass es keinen konkreten, materiellen Anhaltspunkt für einen Aufenthalt der Bibel in Oberösterreich gibt.
Als wahrscheinlichste These bleibt daher trotz aller Vorsicht, dass die Admonter Riesenbibel zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte tatsächlich in Heiligenkreuz aufbewahrt wurde. Für zukünftige Forschungen, die diese These stärken oder schwächen können, gibt es mehrere Ansätze. Zunächst ist die paläographische Untersuchung der Handschriften und vor allem der zahlreichen Korrekturvorgänge noch unvollständig. Es lassen sich in Text, Korrekturen und Nachträgen mehrere Hände des 12. und 13. Jahrhunderts finden, die vielleicht noch genauer zugeordnet werden können. Auf inhaltlicher Ebene kann der dem Schreiber HLK 122 A und anderen Korrektoren zur Verfügung stehende Bibeltext mit den in den österreichischen Zisterzen vorhandenen Texten verglichen werden, um so eine nähere Einordnung zu treffen.
Abbildung 5 Marginalnote des 13. Jahrhunderts, die auf einen Vergleich des korrigierten Texts mit anderen Handschriften hinweist. (ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 55rb)
Erst danach kann man sich zwei weiteren ungelösten Fragen zur Geschichte der Riesenbibel widmen: Wann und auf welchem Weg erhielt ein Zisterzienserkloster, mutmaßlich Heiligenkreuz, die Handschrift und wie gelangte sie danach nach Ungarn?
Keines der genannten Zisterzienserklöster besaß, soweit heute ersichtlich, in der Mitte des 12. Jahrhunderts Handschriften in ähnlich prachtvoller Ausstattung. Mezey vermutet, dass Erzbischof Konrad I. von Salzburg (gestorben 1147) die Bibel Leopold III. (gestorben 1136), dem Gründer von Heiligenkreuz, schenkte und dieser sie seiner Gründung übergab[21]. Sollte dies zutreffen, müsste die bisher in die Mitte des 12. Jahrhunderts datierte Handschrift in die frühen 1130er Jahre vordatiert werden. Immerhin lässt sich ein ähnliches Geschenk für Leopolds zweite Gründung, das Chorherrenstift Klosterneuburg, nachweisen. Laut einer Urkunde erwarb er bei den Chorherren von St. Nicola in Passau unter anderem eine dreibändige Bibel, die er Klosterneuburg übergab. Hier liegt jedoch auch eine engere persönliche Beziehung zwischen den beiden Stiften vor: Propst Hartmann von Klosterneuburg wurde aus St. Nicola berufen[22]. Nicht auszuschließen ist aber auch eine spätere Schenkung der Riesenbibel, für die potentielle historische Hintergründe jedoch erst untersucht werden müssen.
Aufgrund fehlender Quellen wahrscheinlich nicht mehr im Detail nachvollziehbar ist der Weg der Handschrift nach Ungarn. Möglich wäre ein Geschenk an König Bela II., wie es Mezey anführt[23], aber auch ein Weg über die Tochtergründung Cikádor, über deren Buchbestand jedoch nichts bekannt ist. In diesen Kontext fällt auch die Frage nach der Einordnung des nachgetragenen zisterziensischen Hymnars mit ungarischer, nicht-zisterziensischer Notation in die Geschichte der Handschrift.
Für den Moment müssen viele Fragen um die Frühgeschichte der Admonter Riesenbibel offen bleiben. Schon jetzt zeigt sich aber deutlich, wie wichtig eine interdisziplinäre Untersuchung dieser bedeutenden Handschrift ist und wie leicht Erkenntnisse aus einzelnen Fachbereichen zu übereilten Schlüssen führen können.
[1] Vier Blätter fehlen aus Band 1, von denen jene zwischen fol. 234/235 und fol. 243/244 in der École des Beaux Arts in Paris aufgefunden werden konnten: Hanns Swarzenski, Two unnoticed leaves from the Admont Bible. Scriptorium 10 (1956) 94-96.
[2] Zuletzt zum Buchmuck: Andreas Fingernagel, Die Admonter Riesenbibel: (Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 2701 und 2702) (Codices illuminati 1, Graz 2001). Wichtig auch zur Ausstattung und frühen Forschungsgeschichte Tünde Wehli, Die Admonter Bibel (Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae XXIII, 3–4, 1977) 173 – 285; Handschriftenbeschreibung Otto Mazal – Franz Unterkircher, Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek: „Series nova“ (Neuerwerbungen): Teil 2: Cod. Ser. n. 1601-3200 (Museion N.F. 4, Bd. 2, T. 2, Wien 1963) 359-368.
[3] Zu den Urkunden siehe auch Paul Buberl, Die illuminierten Handschriften in der Steiermark I: Die Stiftsbibliotheken zu Admont und Vorau (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich 4,1 = Publikationen des K. K. Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Leipzig 1911) 20 und 22. Erstmals wurde die Beziehung in der ungarischen Forschung im 19. Jahrhundert hergestellt. Siehe zur Forschungsgeschichte László Mezey, Wie kam die Admonter Bibel nach Ungarn? Codices manuscripti 7 (1981) 48–51, hier 48.
[4] Siehe zum Verkauf zuletzt Katharina Kaska, Unabhängige Experten? Die Nationalbibliothek als Gutachter und Käufer von klösterlichem Buchbesitz, in: dass die Codices finanziell unproduktiv im Archiv des Stiftes liegen. Bücherverkäufe österreichischer Klöster in der Zwischenkriegszeit, hg. von Katharina Kaska und Christoph Egger (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 77, Wien 2022) 71–96, hier: 85 mit der dort angeführten Literatur.
[5] Mezey, Admonter Bibel (wie Anm. 3). Mezey datiert sie in die Mitte des Jahrhunderts, was zu früh scheint.
[6] Als Zeitspanne sieht er dabei die Zeit zwischen der Entstehung und die zweite Hälfte der 1140er Jahr, da er mit Wehli, Admonter Bibel 176 (wie Anm. 2) annimmt, dass die Bibel dem Kloster Csatár anlässlich der Kirchenweihe geschenkt worden war.
[7] Rober Klugseder, Die Notation des Hymnars der Admonter Riesenbibel. Codices manuscripti 73/74 (2010) 9–14.
[9] Ebenso auch von Kartäusern, aber siehe Anm. 12. Zur Verwendung des Punctus flexus bei den Zisterziensern siehe z. B. Malcolm B. Parkes, Pause and effect: An introductioin to the history of punctuation in the west (Berkeley 1992) 38–40 mit Tafel 18 und 19; Nigel Palmer, Simul cantemus, simul pausemus. Zur mittelalterlichen Zisterzienserinterpunktion, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. von Eckart C. Lutz – Martina Backes – Stephan Matter (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 11, Zürich 2010) 483–569.
[10] Fingernagel, Admonter Riesenbibel 13f. (wie Anm. 2) zu den Korrekturen
[11] Das Blatt wurde ebd. 53, passierend auf Mazal, Katalog (wie Anm. 2) 359, fälschlich ins 13. Jh. datiert.
[12] Die Kartause Seiz (Žiče) im heutigen Slowenien wurde 1165 gegründet, Aggsbach, Mauerbach und Gaming erst im 14. Jahrhundert. Eine Überarbeitung in einer Kartause ist daher kaum möglich.
[13] Zum Schreiber und seinem Werk: Alois Haidinger – Franz Lackner, Die Bibliothek und das Skriptorium des Stiftes Heiligenkreuz unter Abt Gottschalk (1134/1147) (Codices Manuscripti et Impressi, Supplementum 11, Purkersdorf 2015) 24 bzw. online auf www.scriptoria.at unter den genannten Handschriften.
[14] Zu ihm als Urkundenschreiber Katharina KASKA, Untersuchungen zum mittelalterlichen Buch. Und bibliothekswesen im Zisterzienserstift Heiligenkreuz (Masterarbeit, Universität Wien, 2014) 24. Zur Urkunde Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum zweiten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 15 (2012) 59–115, hier 81. Urkunde abgedruckt in Roman Zehetmayer et. al., Niederösterreichisches Urkundenbuch II: 1076–1156 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 8/2, St. Pölten 2013) 710–712, Nr. 232.
[15] Siehe den Austausch zwischen Baumgartenberg und Heiligenkreuz: Katharina KASKA, Schreiber und Werke. Ein Vergleich paläographischer und textlicher Beziehungen am Beispiel der österreichischen Zisterzienserklöster Heiligenkreuz und Baumgartenberg als methodischer Zugang zur Untersuchung monastischer Netzwerke, in: Die Bibliothek – The Library – La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen (Miscellanea Mediaevalia 41), hg. von Andreas Speer – Lars Reuke (Berlin–Boston 2020) 61–95.
[19] Herbert Paulhart, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. V: Oberösterreich ( Wien 1971) 14–18, Eintrag auf 15 Z. 3
[20]… in cenobio Morimundensi ubi pernocatverat se monachum fecit, cum aliis quindecim qui secum venerant electissimis clericis. Qui etiam, ut ab uno illorum audivi, Friderico nomine, qui et ipse in abbatem Pomkartenperge et deinde in Hungaria in episcopum electus fuerat, omnes in diversas dignitates promoti sunt. (MGH SS 9 610, 30 – 611,2).
[22] Gottlieb, MBKÖ 1 (wie Anm. 17) 83 zur frühen Geschichte der Klosterneuburger Bibliothek. Bereits 1330 war nur noch ein Band der ursprünglich dreibändigen Bibel vorhanden, der heute unvollständig ist (ebd. 89; Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1).
Am 25. Oktober 2022 bietet das Auktionshaus Reiss & Sohn (Königstein im Taunus) im Rahmen seiner 211. Auktion gleich zwei Handschriften mit prominenter österreichischer Herkunft an. Los 1 ist eine Vollbibel des 13. Jahrhunderts, die aus dem Besitz der Kartause Aggsbach stammt. Freilich ist die Handschrift um einiges älter als die 1380 gestiftete Kartause; einem in der Handschrift enthaltenen Vermerk zufolge, der im Katalog leider nur zitiert wird aber nicht abgebildet ist, ist der Codex emptus per dominum Johannem priorem a quodam sacerdote In Ytalia (f. 297v). Ob dieser Johannes mit dem zunächst Mauerbacher Mönch und dann ersten Aggsbacher Prior Johannes Fleischesser zu identifizieren ist oder ob es sich um einen späteren Prior (etwa Johannes Span de Ottlistetn, um 1424, erwähnt in Wien, ÖNB Cod. 1727 und Cod. 4633) dieses Namens handelt, läßt sich aufgrund der Katalogangaben nicht verifizieren. Eine eindeutige Identifikation des Codex mit einem Eintrag im Aggsbacher Bibliothekskatalog aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist nicht möglich. In Frage kämen die Bände C 7 / 1 und C 7 / 2, gleichlautend beschrieben als Item biblia integra cum exposicione terminorum biblie in fine[1] – falls die laut Auktionskatalog die Handschrift beschließenden Teile „der verbreitete Index nominum Hebraicorum sowie … ein alphabetisches Glossar an, anscheinend basierend auf dem Liber qui dicitur Angelus“ der im mittelalterlichen Katalog genannten Expositio terminorum biblie entsprechen. Natürlich ist auch die Möglichkeit zu bedenken, daß die Handschrift erst nach der Abfassung des Katalogs Teil der Aggsbacher Bibliothek geworden ist. Auf dem unteren Rand des zweiten Blattes der Handschrift findet sich ein von einer Hand des wohl frühen 18. Jahrhunderts geschriebener Eintrag: Inter theologos.
Analoge Einträge sind in einer Reihe von Aggsbacher Handschriften zu finden, die heute in der österreichischen Nationalbibliothek verwahrt werden: Inter theologos (Cod. 597, Cod. 1491); Inter Asceticos (Cod. 760, Cod. 4403); Inter Historicos (Cod. 1735, Cod. 5308); Inter Miscellaneos (Cod. 1663, Cod. 3178, Cod. 3473, Cod. 4067, Cod. 4761); Inter philosophos (Cod. 2357); Inter sermones (Cod. 4734). Vielleicht lassen diese Einträge bibliothekarische Ordnungsbemühungen in der Barockzeit erkennen. Freilich wäre es verfehlt, dazu die auf dem Rücken der Handschrift sichtbare Signatur „K 50“ in Beziehung zu setzen, deren Schrift sicher in die Neuzeit zu datieren ist, denn diese Signatur hat nichts mit Aggsbach zu tun sondern weist auf die Geschichte der Handschrift nach der Aufhebung der Kartause 1782 unter Joseph II. hin.
Die Bibliothek wurde durch die Aufhebung zerstreut, wobei eine größere Anzahl von Handschriften in die Wiener Hofbibliothek, heute Österreichische Nationalbibliothek gelangte; zahlreiche Drucke kamen in die Wiener Universitätsbibliothek. Weitere Handschriften und Bücher kamen in andere Bibliotheken – etwa Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. 233 und Cod. 282; andere in private Hände – wie etwa jener Codex, der 2021 vom Wiener Antiquariat Inlibris angeboten wurde; die Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert enthält die dem Robert Kilwardby zugeschriebene Tabula zu Augustinus, De civitate Dei, und scheint inzwischen verkauft worden zu sein. Eine andere und besonders wichtige Aggsbacher Handschrift, nämlich der Bibliothekskatalog aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, gelangte 1913 „aus einer österreichischen Sammlung“ über das Auktionshaus C. G. Boerner in Leipzig in die Bibliothek Eduard Langer in Braunau in Böhmen und wurde 1934 von H. P. Kraus an die Österreichische Nationalbibliothek verkauft, wo sie heute als Cod. Ser. nov. 2583 aufgestellt ist.
Einige Handschriften gelangten in den Besitz von Stift Göttweig – und eine dieser Handschriften ist nun genau der Codex, der jetzt von Reiss & Sohn zur Versteigerung angeboten wird. Die Signatur „K 50“ findet ihre Entsprechung im Göttweiger Handschriftenkatalog des 18. Jahrhunderts (Cod. 962a (rot)/ 878 (schwarz)), in dem der Codex auf f. 167v beschrieben ist. In der Göttweiger Bibliothek trug er später die Signatur Cod. 114 (rot) 61 (schwarz), im Katalog des P. Vinzenz Werl (1844) (Bd. 1 p. 192f.) erhielt er eine ausführliche Beschreibung.[2] Im Zuge einer Inventarisierung der Göttweiger Kunstgegenstände im Jänner 1939 am Vorabend der Aufhebung des Stiftes durch die Nazis wurde das Fehlen der Handschrift vermerkt, 1952 auch im Katalog von Vinzenz Werl eingetragen (p. 193). Vermutlich ist sie mit anderen Büchern der Göttweiger Bibliothek in der Zwischenkriegszeit verkauft worden.[3] „Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts“, so der Auktionskatalog, „befindet sie sich in einer deutschen Privatsammlung.“
Los 4 der Auktion ist der ehemalige Cod. 496 der Stiftsbibliothek Admont. Es ist keineswegs unwichtig, auf die bequem online zugängliche Beschreibung dieser Handschrift im Katalog der Admonter Handschriften von Jakob Wichner (1888, p. 208f.) und auf die darauf aufbauende Behandlung des Codex in Andrea Rzihaceks Buch über die medizinischen Handschriften des Klosters Admont[4] hinzuweisen, da sich auf diese Weise eine durchaus nicht unbedeutende Unzulänglichkeit in der Katalogbeschreibung von Reiss & Sohn offenbart. Der Codex befindet sich in seinem mittelalterlichen Einband, der – wie manche Admonter Handschriften – auf dem mit Streicheisenlinien verzierten Vorderdeckel von einer Hand des 15. Jahrhunderts mit Tinte eine knappe Inhaltsangabe trägt: Versus Egidii de vrina.
Auf dem Rücken ist das wohlbekannte Papierschild mit der Admonter Bibliothekssignatur 496 aufgeklebt. Die Handschrift umfaßt heute 24 Blätter und enthält die Versus de urinis des Gilles de Corbeil mit einem Kommentar des Gilbertus Anglicus (eine eingehende Beschreibung und Erläuterung des Inhaltes mit weiterführenden Literaturangaben ist im gerade erwähnten Buch von Andrea Rzihacek zu finden). Ein Blick auf das Ende des Buchblockes und den Hinterdeckelspiegel macht allerdings stutzig – könnte es sein, daß hier etwas fehlt?
Und in der Tat – nach der Beschreibung von Jakob Wichner umfaßte die Handschrift 39 Blätter, auf die Versus de urinis folgte f. 25r ein Traktat des Urso von Salerno, De effectibus qualitatum; daran schloß eine Version des unter dem Namen Trotula bekannten frauenmedizinischen Kompendiums an (wohl in einer verkürzten Form); und schließlich folgte mit Maurus von Salerno, De urinis ein weiterer Harntraktat. Alle diese Texte fehlen in der hier angebotenen Handschrift, die daher nicht dem Zustand entspricht, in dem sie bis 1934 im Stift Admont verwahrt wurde. In diesem Jahr wurde der Codex an das Züricher Antiquariat L’Art ancien, damals unter der Leitung von Arthur Späth, verkauft. Die weitere Geschichte des Codex und insbesondere seiner seither stattgefunden Zerteilung, ist derzeit unbekannt. „Seit den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts“, so die Katalogbeschreibung von Reiss & Sohn, befand sich die Handschrift „in einer deutschen Privatsammlung“ – nach dem am Schluß des Katalogs gedruckten Einbringerverzeichnis vermutlich die selbe, die auch die als Los 1 angebotener Aggsbacher Handschrift enthielt.
[1] Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. Bd. 1: Niederösterreich. Bearbeitet von Theodor Gottlieb (Wien 1915) [Digitalisat] 565 Z. 22f. und 24f.
[2] Die Handschrift ist auch erwähnt in Christine Glaßner, Abgewanderte Handschriften aus der Göttweiger Bibliothek, in: Vom Schreiben und Sammeln. Einblicke in die Göttweiger Bibliotheksgeschichte. Ed. Astrid Breith, unter Mitarbeit von Nikolaus Czifra, Christine Glaßner und Magdalena Lichtenwagner (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 74, St. Pölten 2021) 169-194, hier 185f., wo die Beschreibung von Werl abgedruckt ist.
[3] Bernhard Rameder, Stift Göttweig zwischen den Kriegen: Verkauf und Erwerb von Kulturgütern in Notzeiten, in: „dass die Codices finanziell unproduktiv im Archiv des Stiftes liegen.“ Bücherverkäufe österreichischer Klöster in der Zwischenkriegszeit. Ed. Katharina Kaska und Christoph Egger (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 77, Wien 2022) 97-116, hier 113; Ders., Göttweiger Bücher im Salzberg. Die Bergung der Göttweiger Handschriften während des Zweiten Weltkrieges im Salzbergwerk Altaussee, in: Vom Schreiben und Sammeln (wie Anm. 2) 195-215, hier 205.
[4] Andrea Rzihacek, Medizinische Wissenschaftspflege im Benediktinerkloster Admont bis 1500 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 46, Wien / München 124f.
Im Zentralarchiv
des Deutschen Ordens (DOZA) in Wien befindet sich ein nicht unerheblicher Teil
der historischen Überlieferung des Deutschen Ordens.[1] Zwar kann nicht von „der“ zentralen Überlieferung gesprochen
werden, vielmehr werden im DOZA Sammlungen unterschiedlicher Provenienzen
aufbewahrt. So befindet sich als ein bedeutender Bestand das Archiv des
Hochmeistertums aus Mergentheim im DOZA.[2] Weiterhin wurden Bestände
zu verschiedenen Balleien, etwa von Böhmen oder der Ballei an der Etsch und im
Gebirge, im DOZA abgeliefert. Von Anfang an lag der Bestand der Ballei
Österreich in Wien.
Unter der Signatur
Hs. 551 wird im DOZA eine Mappe aufbewahrt, in der sich die Makulatur befindet,
welche im Verlauf der letzten rund 100 Jahre von den dortigen Beständen abgelöst
worden war. Die 30 hier verwahrten Fragmente dienten als Einbände von
Steuerregistern, Zehntbüchern, Urbaren, Zinsbüchern, Protokollen und
Prozessunterlagen aus den Kommenden Großsonntag, Gumpoldskirchen, Laibach und
Wiener Neustadt.[3]
Die Laufzeit dieser Trägerbände erstreckte sich auf den Zeitraum von 1565 bis 1698.[4] Bei den eben genannten
Kommenden befindet sich weitere Makulatur noch in situ, wie Stichproben in
diesen Beständen ergeben haben. Es ist also mit weiteren Fragmenten, die aus
denselben Handschriften stammen können, zu rechnen.
29 der 30 genannten
Fragmente stammen aus mittelalterlichen Handschriften, deren Inhalt
hauptsächlich im liturgischen Bereich (Brevier, Lektionar, Missale) zu verorten
war, bestand aber auch aus theologischen Traktaten, wie die Ausführungen des
Kirchenvaters Augustinus zum Johannes-Evangelium,[5] Bibeln, Grammatiktexte[6] oder historische
Abhandlungen.[7]
Abb. 1: Fragment des Missale Salisburgense
Ein einziges
Fragment war Bestandteil einer Inkunabel.[8] Das Pergamentblatt ist am
Rand beschnitten, es fehlen von der der Bindung zugewandten Spalte ca. zwei
Buchstaben. Die Außenmaße je Seite betragen 310 x 185 mm, der geringfügig
beschnittene Schriftraum 260 x 160 mm. Der Text ist zweispaltig gesetzt mit 38 Zeilen
je Spalte. Wie bei liturgischen Texten üblich sind die Gesangstexte in einer
etwas kleineren Schrifttype gedruckt. Mit roter Tinte wurden die Überschriften
sowie die Foliierung LI gedruckt. Diese befindet sich annähernd mittig
über der b-Spalte der Recto-Seite. Weiterhin finden sich dreizeilige rote
Lombarden zu Beginn einzelner liturgischer Texte.
Zum ehemaligen
Trägerband lassen sich leider keine genauen Angaben machen. Auf dem rechten
Rand von f. 51r befindet sich die Angabe SchlüssRachtüng vor Durget Wax Anno
1625 biß […] Anno1626. Ein Band mit einem Friedenabschluss
einer entsprechenden Person ist in den Archivalien im DOZA nicht nachweisbar.
Aufgrund der Knickspuren und der Positionierung der Aufschrift des Trägerbandes
quererlaufend zum Inkunabel-Text auf dem rechten Rand kann gefolgert werden,
dass es sich bei dem Trägerband um einen Quart-Band gehandelt haben muss.
Die Formulare, die
sich auf f. 51rv befinden, gehören zu einem Missale mit Auszügen zur Feria
quinta et Feria sexta post dominicam quartam quadragesimam, also aus der
Fastenzeit. Der Text setzt mitten in der Postcommunio zur Feria quinta ein. Die
Feria sexta wird eigens als solche bezeichnet. Das Formular umfasst die Teile
vom Introitus-Psalm bis zur Evangelien-Lesung Erat quidem languens (Io
11,1 ff.), die sich auf der gesamten Verso-Seite hinzieht.
Abb. 2: Unterer Teil von f. 51v mit Ausschnitten aus der Evangelien-Lesung.
Die im Fragment
aufgeführte Liturgie entspricht, wie ein Vergleich mit dem Liber Ordinarius
gezeigt hat, nicht der Liturgie des Deutschen Ordens, vielmehr kann es als Rest
eines Missale Salisburgense angesprochen werden. Die Drucktype deutet
auf das von Georg Stuchs für Johannes Rynman in Nürnberg 1498 gedruckte Missale.[9]
Ein Verglich mit dieser in der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München
vorhandenen Inkunabel bestätigt diese Vermutung.[10]
Diese Inkunabel ist in wenigen kompletten Exemplaren hauptsächlich in
österreichischen Bibliotheken vorhanden, ein Großteil der Überlieferung basiert
indessen auf Fragmenten.[11]
So besitzen heute nach den Angaben im ISTC u.a. die Dominikaner in Friesach
(heute in der Dominikanerbibliothek in Wien), die Stiftsbibliothek St. Peter in
Salzburg (Fragment), die Benediktiner in St. Lambrecht, St. Paul (nur ein
Blatt) und St. Peter in Salzburg sowie die Vorauer Chorherren unvollständige Exemplare
bzw. Fragmente. Lediglich die Bibliotheken in Graz und Klagenfurt scheinen
unbeschädigte Codices zu besitzen. Das hier vorliegende Fragment ist zudem
eines der sehr wenigen Drucke auf Pergament.
Außer dieser Inkunabel aus dem Jahr 1498 druckte Georg Stuchs in
Nürnberg bereits 1492 ein Missale Salisburgense, von dem sich deutlich
mehr Textzeigen erhalten haben.[12]
Die beiden Inkunabeldrucke von 1492 und 1498 sind die einzigen vor dem Jahr
1500.
Da die Liturgie der Kirchenprovinz Salzburg die im österreichischen
Raum vorherrschende ist, verwundert es nicht weiter, dass unter der anderen
Makulatur der Sammlung im DOZA ebenfalls Reste von Missale-Handschriften mit Salzburger
Provenienz zu finden sind. So spiegeln die Fragmente Nr. 2-3,[13]
12, 22 und 24 ebenfalls die Salzburger Liturgie wider.
Die Salzburger Liturgie ist vergleichsweise gut erforscht. Dies liegt
zu einem erheblichen Teil an dem bis 2019 an den Universitäten Graz und Wien beheimateten
Cantus Network-Projekt begründet, in welchem die Libri Ordinarii, die für Messe
und Offizium maßgeblichen Regelbücher, ediert, digitalisiert und erforscht
wurden.[14]
Der Liber Ordinarius diente als Grundlage für die Ausformulierung der für den
Gottesdienst notwendigen Handschriften, wozu das Missale als „Haupt“-Text zu
rechnen ist. Das Missale selber kann je nach Kirche oder Orden gleichwohl
liturgische Unterschiede zum Liber Ordinarius aufweisen, diese bewegen sich
jedoch in einem kleinen Rahmen.
Mittelalterliche Handschriften des Typs Missale Salisburgense
sind in einiger Zahl vorhanden.[15]
So wird bspw. in der UB Graz ein Missale Salisburgense aus der Zeit um
1200 aufbewahrt, welches aus dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau, das auch
einige Libri Ordinarii ihr Eigen nannte, stammt.[16]
Dieser Codex weist Seckauer Eigenheiten auf. „Reine“ Salzburger Liturgie findet
sich in Archiven und Bibliotheken in Graz (Diözesanarchiv und UB),[17]
Klosterneuburg (Augustiner-Chorherrenstift),[18]
Salzburg (Archiv der Erzdiözese und Museum)[19]
und Wien (ÖNB).[20]
Die letztgenannte Handschrift, Cod. 14123 der ÖNB, war ursprünglich im
DOZA beheimatet.[21] Sie
wurde aus der Ordensbibliothek mit weiteren, mindestens 339 Handschriften, auch
Liturgica sowie theologische Codices aus dem Zeitraum des 13. bis 15.
Jahrhunderts, für 900 Gulden 1861 an die Wiener Hofbibliothek verkauft.[22]
Stichhaltige Gründe für den Verkauf seitens des Deutschen Ordens sind nicht bekannt.
[1] P. Klemens Wieser OT, Das Zentralarchiv des Deutschen Ordens in Wien, in: Archivalische Zeitschrift 60 (1964), S. 131-152. P. Frank Bayard OT, Das Deutschordens-Zentralarchiv in Wien, in: Österreichische Archive. Geschichte und Gegenwart, hg. von Petr Elbel, Brünn 2019, S. 486-503.
[2]
Karl Lampe, Die Auflösung des Deutschordenshauptarchivs zu Mergentheim, in:
Archivalische Zeitschrift 57 (1961), S. 66-130.
[3] Zu Großsonntag, Laibach und Wiener Neustadt vgl. P. Marian Tumler OT: Der Deutsche Orden im Werden, Wachsen und Wirken bis 1400 mit einem Abriß der Geschichte des Ordens von 1400 bis zur neuesten Zeit, Wien 1955, S. 54 und 92-95. Zu Gumpoldskirchen vgl. Günther Ollinger, Der Deutsche Orden in Gumpoldskirchen – Eine Entwicklungsgeschichte – Von den Anfängen bis zum 17. Jahrhundert, Magisterarbeit Univ. Wien 2011, S. 58-64.
[4]
Anette Löffler, Makulatur und ihre Trägerbände im Zentralarchiv des Deutschen
Ordens (DOZA) in Wien, in: Deutscher Orden 1 (2021), S. 22-30.
[5] Anette Löffler, Die Makulatursammlung (Hs. 551) im Zentralarchiv des Deutschen Ordens in Wien. Katalog und Beschreibung des Bestandes (Erschließung
abgeschlossen, Druck in Vorbereitung), Nr. 5.
[6]
So bspw. ein Fragment aus dem Liber derivationum des Huguccio von Pisa, vgl.
Löffler (wie Anm. 5), Nr. 27.
[7]
Hier ein Fragment aus De bello judaco des Flavius Josephus, vgl. Löffler (wie
Anm. 5), Nr. 30.
[15]
Ferdinand Eichler, Eine Salzburger Missalienwerkstätte des späten XV.
Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 15 (1940), S. 163-168. Friedrich Simander,
Ein vermutliches Missale Salisburgense der British Library, in: Codices
manuscripti 48/49 (2004), S. 7-12.
[21]
Robert Klugseder e.a., Katalog der mittelalterlichen Musikhandschriften der
Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Codices mansucripti & impressi, Supplementum
10), Purkersdorf 2014, S. 208-210 und Abb. 67a-d.
[22]
Franz Lackner, Zum Kauf der Handschriften der Bibliothek des Deutschen Ordens
in Wien durch die Hofbibliothek im Jahre 1861, in: Codices manuscripti 25
(1998), S. 17-33, mit einer Liste der verkauften Handschriften auf S. 26-31. Zu
den liturgischen Handschriften Robert Klugseder, Die mittelalterlichen
liturgischen Handschriften der Bibliothek des Deutschen Ordens in Wien, in:
Codices manuscripti 73/74 (2010), S. 31-42.
In den am 1. August 1373 von Papst Gregor XI.
herausgegebenen Konstitutionen für das Kapitel der Lateranbasilika in Rom wird
die Verwahrung der Privilegien und anderen Urkunden folgendermaßen geregelt:
[II, 30] Et privilegia, statuta et instrumenta sine licentia
domini cardinalis, vel eo absente eius vicarii et capituli, nullus temptet de
loco ubi sunt reposita removere, nisi pro evidenti causa ipisus ecclesie vel
alicuius deservientium in eadem. Et tunc manibus vicarii seu camerariorum infra
tempus per vicarium et cameriarios prefigendum debeat ad ipsos camerarios reportare.
Contrarium faciens excommunicationis sententia se noverit innodatum, a qua
absolvi nequeat nisi illa reportet primitus ad sacristie locum unde receperat[1].
Etwas freier übersetzt: Die Privilegien, Kapitelstatuten und
anderen Urkunden darf niemand ohne Erlaubnis des Erzpriesters der
Lateranbasilika oder, wenn dieser abwesend ist, seines Vikars und des Kapitels,
aus ihrem Aufbewahrungsort entfernen – ausgenommen, eine zwingende
Notwendigkeit erforderte dies; aber auch dann sind die entlehnten Dokumente
innerhalb einer festzusetzenden Frist an die zuständigen Amtsträger zurückzustellen.
Wer zuwiderhandelt, verfällt der Exkommunikation, von der er nur gelöst werden
kann, wenn er zuvor die Dokumente zurückbringt.
Über sehr lange Zeit hat man im Archiv des Laterankapitels diese Regelung getreu beherzigt – das Archiv war auch im 19. und 20. Jahrhundert notorisch unzugänglich und schwierig zu benützen: so schreibt der deutsche Historiker Julius von Pflugk-Harttung in seinem Iter Italicum[2], daß ihm zwar auf Empfehlung des Erzpriesters der Lateranbasilika Kardinal Chigi der Zutritt zum Archiv gestattet wurde, aber: „Mich [sic] wurde versichert, dass alle Urkunden in Kisten verpackt und deshalb unzugänglich, päpstliche Originale meiner Zeit, so weit bekannt, nicht vorhanden seien.“ Daß beides ein Vorwand war, erfuhr bald darauf Paul Fridolin Kehr, als er im Zuge der Vorarbeiten für die Italia pontificia das Archiv besuchte – versehen mit einer Empfehlung des Präfekten der Vatikanischen Bibliothek Franz Ehrle und vermittelt durch einen Kanoniker von St. Peter: „Der Archivar Mons. Basilio Pompili erwies mir die größte Freundlichkeit“ und Kehr bekam sowohl Archivverzeichnisse als auch Originalurkunden und Kopialbücher vorgelegt. So konnte er im zweiten seiner Berichte über Papsturkunden in Rom auch ausführlich die Bestände des Lateranarchivs behandeln[3] und aufgrund seiner Beobachtungen später noch ein längeren Aufsatz verfassen[4]; seine Beobachtungen flossen auch in den entsprechenden Abschnitt der Italia pontificia ein[5]. Auch der französische Historiker und Autor einer umfangreichen Geschichte des Lateranpalastes Philippe Lauer konnte nur mit großer Mühe Zugang zum Archiv erlangen: „J’ai eu quatre mois de négociations très pénibles à mener avant de pouvoir entrer dans ces archives en 1899, et si j’y suis parvenu, je le dois à l’intervention de l’ambassade de France à Rome, ainsi qu’à la bienveillance de l’archiprêtre, du doyen et de l’archiviste de la basilique.“[6] Ein zuverlässiges gedrucktes Verzeichnis der Urkunden ist erst seit wenigen Jahren zugänglich: es wurde 2010 vom langjährigen Mitarbeiter der Vatikanischen Bibliothek und Laterankanoniker Louis Duval-Arnould veröffentlicht[7].
Für 14. bis 28. April 2021 hat das Auktionshaus Christie’s
eine Online-Auktion
angekündigt, deren Spitzenstücke (Lot 1 und 2) ein feierliches päpstliches
Privileg Papst Innocenz’ II. und eine Littera cum serico Papst Innocenz’ III.
sind. Im dem literarischen Genus „Auktionskatalog“ eigenen hochtönenden Stil
wird festgestellt, daß „The present document appears to be the earliest papal
bull to have been offered at international auction in at least the last 40
years“, und die Schätzpreise sind dementsprechend angesetzt.
Das feierliche Privileg Innocenz’ II. ist am 21. Juni 1138
in Rom (Lateran) ausgestellt; es bestätigt ein feierliches Privileg Papst
Honorius’ II. und ist in der Tat ein prachtvolles Stück:
Begünstigt ist das Hospital bei der Lateranbasilika, das
sich später unter der Verwaltung des Laterankapitels befand. Auf der Rückseite
der Urkunde finden sich eine Archivsignatur und ein kurzes Regest von einer
Hand des 18. Jahrhunderts:
Auf beides wird gleich zurückzukommen sein.
Äußerlich etwas bescheidener tritt die als Lot 2 angebotene
Littera Innocenz’ III. auf; allerdings ist hier noch die an Seidenschnüren
befestigte Bulle am Stück erhalten.
Die Littera ist in Rom (Lateran) am 12. Dezember 1210 ausgestellt – die im Auktionskatalog gegebene Auflösung von „II Idus Decembris pontificatus nostri anno tertiodecimo“ als 2. Dezember 1210 ist falsch. Empfänger der Littera sind Prior und Konvent der Lateranbasilika – das Kapitel bestand im 12. und 13. Jahrhundert aus Augustiner Chorherren – und es geht um die Entscheidung des Papstes in einem Streit des Kapitels mit dem Prior und den Mönchen von SS. Quattro Coronati um Pfarrgrenzen[8]. Der Text der Littera ist im Wortlaut der Ausfertigung für SS. Quattro Coronati in das päpstliche Kanzleiregister eingetragen worden[9], im Wortlaut der Ausfertigung für das Laterankapitel ist das Stück in eine am 7. November 1216 ausgestellte Urkunde Honorius’ III. für das selbe inseriert[10].
Auch die Littera Innocenz’ III. trägt auf der Rückseite eine
Signatur und einen Archivvermerk
Es ist deutlich – Signaturen und Vermerke auf beiden Stücken
stammen von der selben Hand, beide Stücke daher aus dem selben Archiv – und
dieses Archiv ist das Archiv des Kapitels der Lateranbasilika. Der Urheber der
Signaturen und Archivvermerke ist der Benediktiner Pier Luigi
Galletti, der das Archiv 1763 einer Ordnung und Verzeichnung unterzogen
hat. In einer von Galletti angelegten Sammlung von Urkundenabschriften und
Notizen, heute Cod. Vat. lat. 8034 der Vatikanischen Bibliothek, ist der Text
der Innocenz III.-Littera auf f. 64r kopiert,
das Datum allerdings fälschlich mit der Jahresangabe 1211 aufgelöst – ebenso
wie im Archivvermerk auf der Rückseite der Littera[11].
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich beide
Urkunden noch im Kapitelarchiv, als sie der damalige Archivar Giovanni Muccioli
in einem von ihm angelegten Summarium
omnium bullarum que in Tabulario Lateranensi asservantur beschrieb[12].
Auch bei seinem Besuch im Jahr 1900 scheint Paul Fridolin Kehr noch das Original
des feierlichen Privilegs Innocenz’ II. gesehen zu haben[13].
Irgendwann danach müssen die beiden Stücke und noch eine größere Anzahl weiterer
abhanden gekommen sein – in der Einleitung seines Inventars vermerkt Duval-Arnould,
daß von den 1840 von Giovanni Muccioli verzeichneten Papsturkunden heute 42
fehlen – „Per queste ultime si può presumere che non si tratti di perdite
accidentali, ma probabilmente di furti.“[14]
Wenigstens für das feierliche Privileg Innocenz’ II. vom 21. Juni 1138 und die Littera cum serico Innocenz’ III. vom 12. Dezember 1210 wird man das „probabilmente“ leider in ein „sicuramente“ ändern müssen. Das Weitere ist für die handelnden Personen wohl leider „nur“ eine Gewissensfrage … bei deren Beantwortung in unserer säkularisierten Zeit eine Erinnerung an die in den eingangs zitierten Kapitelstatuten von 1373 ausgesprochene Sanktion wohl noch weniger als Ansporn zum rechten Handeln dienen wird, als in der zumindest vordergründig gottesfürchtigeren Vergangenheit: Contrarium faciens excommunicationis sententia se noverit innodatum, a qua absolvi nequeat nisi illa reportet primitus ad sacristie locum unde receperat.
Nachtrag 28. April 2021: Vielleicht ist ein kleiner Hinweis auf die Tatstrafe der Exkommunikation doch nicht so wirkungslos – selbst wenn er in lateinischer Sprache gehalten ist … bei dieser Auktion sind die beiden Urkunden jedenfalls unverkauft geblieben.
[1]
Statuti e costituzioni medievali del Capitolo Lateranense. Ed. Louis
Duval-Arnould e Jochen Johrendt con la collaborazione di Anna Maria Voci
(Tabularium Lateranense 2, Cittá del Vaticano 2011) 146.
[2]
Julius Pflugk-Harttung, Iter Italicum (Stuttgart 1883) 79.
[3]
Paul Fridolin Kehr, Papsturkunden in Rom. Zweiter Bericht, in: Nachrichten der
K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische
Klasse 1900, Heft 3, 360-436, zum Lateranarchiv 397-400 (Nachdruck: Paul Fridolin
Kehr, Papsturkunden in Italien. Reiseberichte zur Italia pontificia II:
1899-1900 (Acta Romanorum Pontificum 2, Città del Vaticano 1977) 513-589).
Wirklich ungehinderte Forschungen waren ihm aber erst bei einem weiteren Besuch
möglich: Paul Fridolin Kehr, Nachträge zu den römischen Berichten, in:
Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische
Klasse 1903, Heft 5, 505-591. hier 532f. (Nachdruck: Kehr, Papsturkunden in
Italien. Reiseberichte zur Italia pontificia IV: 1903-1911 (Acta Romanorum
Pontificum 4, Città del Vaticano 1977) 163-249).
[4]
Paul Fridolin Kehr, Römische Analekten, in: Quellen und Forschungen aus
italienischen Archiven und Bibliotheken 14 (1911) 1-37, hier 1-26: Die falschen
Papsturkunden des Lateran (Nachdruck: Kehr, Papsturkunden in Italien IV:
1903-1911 (Acta Romanorum Pontificum 4, Città del Vaticano 1977) 419-455).
[5]
Italia pontificia I: Roma, bearb. v. Paul Fridolin Kehr (Berlin 1906) 22-35 (Digitalisat).
[6]Philippe Lauer, Le Palais du Latran (Paris 1911) 345. Lauer bietet auch eine knappe Liste der Urkunden (633-639), doch ist diese möglicherweise nicht immer aufgrund der Originale erstellt – siehe unten Anm. 11.
[7]
Louis Duval-Arnould, Le pergamene dell’Archivio Capitolare Lateranense.
Inventario delle serie Q e bollario della chiesa lateranense (Tabularium
Lateranense 1, Città del Vaticano 2010).
[8] Über die im Zuge dieses Streites hergestellten Fälschungen vgl. Kehr, Römische Analekten (wie Anm. 4).
[9]
ASV, Reg. Vat. 8, f. 43r; Die Register Innocenz’ III. 13. Band: 13.
Pontifikatsjahr, 1210/1211. Texte und Indices. Bearb. v. Andrea Sommerlechner
und Herwig Weigl gemeinsam mit Othmar Hageneder, Rainer Murauer und Reinhard
Selinger (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen
Kulturforum in Rom II/1/13, Wien 2015) 293-295 Nr. 195 (197) (Digitalisat des
gesamten Bandes). August Potthast, Regesta Pontificum Romanorum (Berlin 1874,
Ndr. Graz 1957) Nr.
4144.
[10] ASV, Reg. Vat. 9, f. 15r-15v; Pietro Pressutti, Regesta Honorii Papae III, 2 Bde. (Rom 1888, Ndr. Hildesheim / New York 1978) I, 16 Nr. 91 (Abdruck des gesamten Textes aus dem Register ebd. p. LXXsq.); Das Original des Honorius-Privilegs befindet sich unter der Signatur Q.I.A.5 im Kapitelarchiv, vgl. Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 235 Nr. 47.
[11] Der Jahresangabe von Galletti folgt anscheinend Lauer, Le palais (wie Anm. 6) 634f. Nr. 33.
[12] Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 9f. zu den Bemühungen von Galletti und Muccioli.
[13] Italia Pontificia I, 35 Nr. 3, abgedruckt in Pressutti, Regesta (wie Anm. 10) I, LXVI–LXV.
[14] Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 11. In seinem „Bullarium“ hat Duval-Arnould die nun bei Christie’s angebotenen Urkunden Innocenz’ II. (226 Nr. 12) und Innocenz’ III. (234 Nr. 44) aufgrund der kopialen Überlieferung verzeichnet und das Fehlen der Originale vermerkt.
by April A. Pril, Librarian, Hermes Academy of Business and Management
Studies, Little Big Hoax, WY, USA
I’m most grateful to the editors of the Iter Austriacum Blog for
allowing me to publish a first account of what I believe is a most exiting find
which might well shed new light on the private life and favourite pasttimes of
one of the greatest medieval popes, pope Innocent III.
The Fiddler A. Greedy Memorial Library of the Hermes Academy of Business
and Management Studies recently acquired a copy of a German academic
dissertation, published in 1623 in Munich and concerned with lying and fraud.
It is therefore of tremendous importance for any formation in entrepreneurship.
Unfortunately the provenance of the book, which was acquired from the antiquarian bookdealer Shady Books Inc., is not known – somebody has taken great pains to remove a few lines of text and a stamp on the upper pastedown of the volume. Rumours have it that the last owner was a former highranking official of the US government and well known practitioner in the field of lies and fraud who recently suffered a severe career-setback.[1]
The short pamphlet (only 37 pages) was wrapped in a leaf of parchment which
was removed in the course of conservation treatment. On the reverse side of the
leaf, although heavily damaged, writing could be recognized which upon closer
inspection turned out to be a letter by pope Innocent III to his chamberlain
Octavian. Traces of folding and cuts in the margins indicate that the leaf is
the original letter, which was dispatched as a letter close – the cuts
resulting from the opening of the letter. The leaden bull once affixed to the
document of course is lost. The damaged state of the parchment notwithstanding
the reading of the text is not problematic. What follows, is a provisional
edition of the text and a short commentary. However, due to the lack of
appropriate equipment, so far it had not been possible to produce images. These
will be provided on a later occasion.
Innocentius episcopus servus servorum Dei dilecto in Christo filio Octaviano camerario nostro salutem et apostolicam benedictionem. Salvatore nostro hortante qui dicit “Venite seorsum in desertum locum et requiescite pusillum” [Mc 6,31] nuper de Urbe ad Sublacensem monasterium accessi sumus ut sedentes cum Maria secus pedes Domini audiamus verbum eius [Lc 10,39]. Sed inimicus hominum nec etiam septima die quiescit [Gn 2,2] immo non desinit zizaniam superseminare agro dominico [Mt 13,25] ita ut incessanter cum Martha solliciti esse debemus et turbari erga plurima [Lc 10,41]. Sed heu, quia quietem expectantes fuimus et non laborem, unum tantum librum nobiscum portavimus, memores illius qui frequentem meditationem carnis adflictionem esse dixit [cf. Ecl 12,12]. Nunc vero dierum malitia [Mt 6,34] compulsi plurimorum librorum copia nobis necesse est, illo testante qui lectorem unius libri timendum esse asseruit[2]. Ideoque discretionem tuam per apostolica scripta precipiendo mandamus ut in cubiculum nostrum ingrediens hos sequentesque libros accipias et nobis tam cito quam possis transmittere curas. Libri vero sunt isti: Pars regestorum cancellarie nostre annorum 3 et 4 pontificatus nostri complectens Item magistri Philippi de Grevia liber poematum qui incipit “Pater sancte dictus”[3] Item Aristotelis philosophi de Poetica liber IIus[4] Item Ioachimi abbatis liber de consideratione ad Innocentium papam[5] Item tractatus Gualteri cantatoris de nimia iuventute pape, scriptus in lingua barbarica, quem episcopus Pataviensis nuper ad nos transmisit[6] Item dictatus pape de damnanda et detestanda gente persecutorum qui incipit „Bellum in terris et tabula rasa“[7] Datum apud monasterium Sublacense, V Idus Augusti, anno quinto [9 August 1202]
It is a well known fact that Innocent III in 1202 spent part of the summer as a guest of the Benedictine monastery of Subiaco in Lazio. The stay was not without inconveniences, as a vivid description written by a member of the Curia shows[8]; several papal letters were issued in the respective period.[9] The letter in question thus fits well with the papal itinerary. There is also evidence that Innocent III was an avid reader, always keeping books at his bedside. The Welsh cleric Gerald, while persuing business at the papal Curia, presented the pope with some of his works which the pope kept in his private chamber near his bed for more than a month.[10] There is even a picture showing an abundantly filled bookshelf above the papal bed:
The authenticity of the letter can therefore be regarded as proven
beyond any reasonable doubt.
A further point is to be made – the entries in the list provide the names of several works of medieval latin literature which so far have escaped scholarly attention. The letter is therefore an important addition to our knowledge of medieval latin literature.[11]
A more detailed enquiry in this important source should be left to scholars more competent in the field of papal history than I am. I would however like to use the occasion and make an offer to my esteemed scholarly audience. While the dissertation De mendacio ac dolo is obviously of the greatest relevance for business and management studies, Innocent III’s letter is not. The Hermes Academy of Business and Management Studies therefore decided to deaccession the document. The most interesting and quite unique parchment is therefore for sale. Offers will be accepted until April 1, 2022. Please write to nosuchaddress@foolish.com. Advance payments only, only Bitcoins accepted. Don’t miss this opportunity – when it is gone it is gone!
[1] Personal information from Mr.
William Libri, owner of Shady Books Inc.
[2] For this saying, cf. Andreas
Fritsch, “Timeo lectorem unius libri,” Vox
Latina, 19 (1983), pp. 309-315.
[3] Undoubtedly a collection of
poems by the Paris master Philipp the Chancellor, who is known to be the author
of a short piece dedicated to Innocent III himself, starting with the line Pater sancte dictus Lotharius.
[4] As the outstanding Italian medievalist
Umberto Eco has convincingly demonstrated in his important book “Il nome della
rosa” (Milan, 1980), the only copy of the second book of Aristotle’s Poetics
was extant and ultimately destroyed in the library of an unknown cluniac monastery
in the Apennine in the 1320s. Here, however, is evidence that in the early 13th
century the book belonged to the papal library.
[5]
There is of course Bernard of Clairvaux’s well known treatise De consideratione ad Eugenium papam,
dedicated to pope Eugenius III. It seems that a certain Joachim – undoubtedly the
Calabrian abbot Joachim of Fiore (d. 1202) – followed Bernard’s example and directed
a similar treatise to Innocent III, which unfortunately is not known to
survive. The implications of this are widereaching: as Eugenius was Bernard’s disciple,
could it be thus established that Innocent was linked to Joachim in a similar
way? It is known from elsewhere that the pope was quite familiar with the abbot’s
thoughts and ideas. More research needs to be done on this intriguing question.
[6]
This entry is a riddle. Is it possible that the Gualterus cantator is to be identified with the famous Minnesanger
Walther von der Vogelweide? He was known to be close to Wolfger, bishop of
Passau (Patavium) in Bavaria 1190-1204. Walther was actually complaining about
the pope’s young age in one of his songs: „owê der bâbest ist ze jung, hilf,
hêrre, dîner kristenheit“. This would fit the description of the language as „barbarica“
very well – for which see the thourough and definitive philological study by Mark
Twain, The Awful German Language (Hartfort CT / London 1880).
[7] No such work is known to
survive. It is just a wild guess that this is a treatise written by Innocent
III (dictatus pape!) against the
Hohenstaufen dynasty, now unfortunately lost. The use of gens persecutorum in Innocent’s other authentic letters gives some
support to this hypothesis: see Regestum Innocentii III papae super negotio
Romani imperii, ed. Friedrich Kempf (Miscellanea Historiae Pontificiae 12, Roma
1947) n. 29 p. 83
l. 12-3; n.. 33 p. 107 l. 1; n. 62 p. 174 l. 6; n. 92 p. 244 l. 3-4 etc.
[8] Karl Hampe, “Eine Schilderung des
Sommeraufenthaltes der römischen Kurie unter Innocenz III. in Subiaco 1202,”
Historisch Vierteljahresschrift 8 (1905), pp. 509-535; and see Brenda M.
Bolton, “The caravan rests: Innocent III’s use of itineration,” Omnia disce –
Medieval Studies in Memory of Leonard Boyle, O.P. Eds Anne J. Duggan, Joan G.
Greatrex, Brenda M. Bolton (Church, faith, and culture in the medieval West,
Aldershot 2005), pp. 41-60.
[9] Die Register Innocenz‘ III., 5. Pontifikatsjahr, 1202/1203. Texte. Ed. by Othmar Hageneder with Christoph Egger, Karl Rudolf and Andrea Sommerlechner (Publikationen des Historischen Instituts beim Osterreichischen Kulturinstitut in Rom II/1/5, Vienna, 1993), nos 73 (74)-82 (83), pp. 142-165.
[10] Gerald of Wales, De rebus a se
gestis III, 18, ed. J. S. Brewer (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores
21/1, London 1861), p. 119: “Libros autem illos papa, quia copiose literatus
erat et literaturam dilexit, circa lectum suum indivisos per mensem fere secum
tenuit …“
[11] Presumably all of them have been missed in Thomas Haye, Verlorenes Mittelalter. Ursachen und Muster der Nichtuberlieferung mittellateinischer Literatur (Mittellateinische Studien und Texte 49, Leiden / Boston, 2016) – but because this book has been published in German I’m not able to tell. Let me make this one point clear: it is irresponsible to publish important results in such minority languages as German and thus withhold them from the competent scholarly audience they would otherwise reach.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für A Most Unexpected Find. A List of Books Kept in Pope Innocent III’s Bedchamber
Neue Funde zum Schrifttum von Heinrich von Langenstein
„Merke es: Unser allerheiligster Papst Nikolaus V hat dieses Buch vergangenes
Jahr in Frankfurt gesehen, als er noch weder Kardinal, noch Papst war, und er
hat mir, Nikolaus, geschrieben, dass die Engländer dieses Buch sehr rühmen, und
dass es hier, wie es an mehreren Stellen offenkundig ist, in einer Verkürzung
vorliegt, und dass Meister Heinrich von Hesse in seinem Werk über die Genesis
viel gegen das Anliegen des Schreibers geschrieben hat.“
Diese Notiz, die der deutsche Gelehrte Nikolaus Cusanus 1447 in einen seiner
Kodizes eingetragen hat,[i]
schildert eine bislang unbekannte Verknüpfung. Sie beschreibt zwei
Schlüsselwerke des europäischen Spätmittelalters als polemisierend miteinander
verbunden: den Traktat De causa Dei
(1344) von Thomas Bradwardine und den Genesiskommentar (1385-1397) von Heinrich
von Langenstein. Der Mathematiker und Theologe an der Universität Oxford,
Thomas Bradwardine (c. 1290-1349) argumentierte in seinem theologischen
Hauptwerk De causa Dei gegen die
Verteidiger der Autonomie und Freiheit des menschlichen Willens, indem er
dessen Abhängigkeit von Gott und Freiheit vertrat.[ii]
Der in Paris studierte deutsche Gelehrte Heinrich von Langenstein (1325-1397)
griff Bradwardines Thesen in seinen Vorlesungen über die Bibel an der
Universität Wien fünfzig Jahre später heftig an. Bradwardines Werk war damit
neben Oxford und Paris auch in der Hauptstadt des Habsburgerreiches Gegenstand
lebhafter Diskussion, theoretischen Widerstands und damit Teil der
intellektuellen Tradition. Dass genau Langensteins Auseinandersetzung dem
Italiener Tommaso Parentucelli hundert Jahre nach dem Erscheinen von De causa Dei und ein halbes Jahrhundert
nach dem Ende von Langensteins Vorlesung über das Buch Genesis relevant
erschien, zeigt den westeuropäischen Einfluss des magnum opus von Langenstein.[iii]
Es ist gleich festzuhalten, dass die Erwähnung von Langensteins
Auseinandersetzung mit Bradwardine darauf hinweist, dass der bibliophile und
belesene Papst den ganzen Genesiskommentar gelesen hat, und zugleich einen
Teil, der heute nur in wenigen Handschriften überliefert ist.
Der letzte Teil des Genesiskommentars nimmt hinsichtlich der
Kontinuität des Texts und auch in der Überlieferung einen besonderen Platz ein.
Er stört den Aufbau des Werkes, scheint nicht mehr zu Langensteins Vorlesung zu
gehören, hat keinen exegetischen Inhalt, wird daher meist nicht mehr kopiert.
Nimmt man die autographen Handschriften, die der Bibliothek des Collegium
ducale gehörten und heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien
aufbewahrt sind, die an der Universität Wien vorgelesen wurden und die die
Vorlagen für spätere Abschriften bildeten, ist der Genesiskommentar um zwei
Bände länger: Codizes 4657 und 4718 kommentieren nicht mehr den Bibeltext, obwohl sporadische Hinweise
auf den exegetischen Kontext nicht fehlen. Im gedruckten Katalog der ÖNB tragen
beide Bände den Titel einer quasi-Theodizee: Commentaria de origine mali et de peccatis.[iv]
Doch das Explizit in Cod. 4718 entspricht dem Explizit anderer, vollständiger
Reihen des Genesiskommentars.[v]
Außerdem steht in Cod. 4718 der Schlussvermerk auf fol. 183v–184r:
“Hec ultima lectio scripta et non lecta nec correcta per venerabilem virum
magistrum Henricum de Hassia.”[vi]
Codices
4657 und 4718 gehören also auch zum Genesiskommentar, und müssen im Katalog
auch den Titel Commentarius in Genesim
tragen. Eine genaue Betrachtung
dieser Handschriften, des Texts selbst und eine zusätzliche Angabe weisen aber
auf die Existenz von zwei bislang unbekannten Traktaten in diesem Teil des
Genesiskommentars von Langenstein hin.[vii]
Dieser Beitrag möchte die zwei Traktate zum ersten Mal als zum Schrifttum von
Heinrich von Langenstein gehörend beschreiben.
Der
Genesiskommentar von Langenstein ist ein Hexaemeron, der nur das Schöpfungswerk
und nicht das ganze Buch Genesis auslegt; genauer, ein Kommentar über Genesis
1:1 bis 3:19. Gemäß der Methode der Bibelauslegung im 14. Jahrhundert an der
Universität Wien, wird die Hermeneutik der Bibelstelle aufgeführt, worauf
Fragen – scholastische quaestiones –
folgen, die einen thematischen Bezug zur Bibelstelle haben. Mit dieser Methode hört
Langenstein in Cod. 4657 auf; es folgt ein rein theoretischer Teil, wo keine
Bibelstelle mehr ausgelegt wird. In
diesem Teil lassen sich rasch separate Traktate identifizieren, die an den
Rändern mit ihren Titeln angegeben werden. Der erste ist der Tractatulus de somniis, derLangensteins Interesse an kognitiven
Prozessen beim Menschen bezeugt: er beschreibt die Entstehung von Träumen,
Prophezeiungen, Täuschungen, Visionen, Phantasmen.[viii] Auf diesen ca. achtzig
Folia langen Teil folgt in Cod. 4657 ein deutlich längerer, der auf fol. 103r
oben wie folgt eingeführt wird: “Sequitur Incipit volumen de necessitate
fatali.”
Wien, ÖNB, Cod. 4657, fol. 103r.
Laut
diesem Hinweis, der vielleicht als Vormerkung für eine nicht ausgeführte Rubrik
diente, beginnt also ein neuer Abschnitt im Genesiskommentar, und zwar
kodikologischer, nicht inhaltlicher Art. Doch im Text der Vorlesung selbst
werden Rückverweise nicht auf einen „Band“ (volumen),
sondern auf einen Traktat (tractatus)
De necessitate fatali gemacht.[ix]
Weiters
bestätigt eine andere frühe Kopie des Genesiskommentars die Existenz eines Tractatus de necessitate fatali.
Cod. 4830 der ÖNB
ist eine in mehrfacher Hinsicht interessante Handschrift. Hier, auf fol. 2v ist
das letzte Zitat aus der Genesis noch als „unser Text“ bezeichnet: “De hoc in
textu nostro […] Sudore vultus tui vesceris […] et in cinerem
reverteris.” Der Tractatulus de
somniis fängt auf fol. 26r an; der Tractatus
de necessitate fatali auf fol 121r. Auf dem Titelschildchen des Einbandes –
die Handschrift gehörte der Rosenburse, der zweitgrößten Bibliothek der frühen Universität
nach der des Collegium ducale – wird nur der letztere verzeichnet:
Wien, ÖNB, Cod. 4830, Titelschildchen auf Einband: “Lectura magistri Hainrici de Hassia tertii capituli Genesis … complectens tractatusque de necessitate fatali folio 121”
Außer diesen Hinweisen
kennen wir keine Handschrift, die den Traktat De necessitate fatali – oder den Tractatulus de somniis – überliefern würde. Der Traktat De necessitate fatali selbst ist trotz
des gewundenen Aufbaus sehr elaboriert. Präzise Hinweise auf die darin
entfalteten Argumente findet man bereits in früheren Bänden des
Genesiskommentars. Es ist daher eine plausible Hypothese, dass Langenstein an
diesem Traktat schon in seinen Wiener Jahren gearbeitet hat, und ihn in seine
späteren Vorlesungen über die Bibel aufgenommen hat. Da der Traktat als Teil
des Genesiskommentars eine Überlieferung fand, hatte es keine Bedeutung mehr,
frühere Arbeitskopien aufzuheben – sie sind daher nicht überliefert worden.
Neben dieser unwichtigen Hypothese ist es sicher, dass die
Auseinandersetzung mit Thomas Bradwardine, die Papst Nikolaus V gekannt und
Nikolaus Cusanus berichtet hat, hier und an keiner anderen Stelle des
Bibelkommentars von Heinrich von Langenstein die Hauptmotivation bildet. Deren
Kontext, der Tractatus de necessitate
fatali, ist eine außergewöhnliche Schrift.[x]
Er ist nicht nur von faszinierender historischer Reichweite und von einer in
scholastischen Texten seltenen rhetorischen Kraft; er überrascht vor allem mit
seiner philosophischen Originalität. Der Tractatus
de necessitate fatali ist zweifellos ein wichtiger neuer Text für die
deutsche Philosophie des Mittelalters.
[i] Bernkastel an der Mosel, Hospital
zu Cues, MS 93, fol. 164v. Nur der erste Vermerk, der unmittelbar
nach Textende steht, ist in der Hand des Nicolaus Cusanus geschrieben. Er hat
bereits das Interesse der Forschung, wohl nur vorläufig, erweckt: P. Moffitt
Watts, Nicolaus Cusanus. A
Fifteenth-Century Vision of Man, Leiden: Brill, 1982, 17, n. 29; C. Bianca,
‘Niccolò Cusano e la sua biblioteca: note, ‘notabilia’, glosse’, in E. Canone
(Hrsg.), Bibliothecae selectae da Cusano
a Leopardi, Firenze: Leo S. Olschki, 1993, 7–9. Tommaso Parentucelli weilte
zum Reichstag in September-Oktober 1446 in Frankfurt; die Notiz von Cusanus ist
nach seiner Wahl zum Papst am 6.3.1447 entstanden: E. Meuthen (Hrsg.), Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Cusanus, Hamburg: Felix Meiner,
1983, Bd. I Lieferung 2, 537.
[ii] Zu den verschiedenen Versionen und
der handschriftlichen Überlieferung des De
causa Dei in Österreich siehe E. A. Lukács, ‘Die Handschriften von Thomas
Bradwardines Traktat De causa Dei in
Österreich’, Codices manuscripti &
impressi 99/100 (2015): 3–10. Als Tommaso Parentucelli in Rom zum Papst
gewählt wurde, besaß er in seiner Bibliothek gleich zwei Handschriften von
Bradwardines De causa Dei, von denen
die eine, Vat. lat. 1038, vorher Papst Gregor XII und Papst
Eugen IV gehört hatte. Nikolaus V war also der dritte Papst in der Reihe von
Päpsten, die Thomas Bradwardine lasen. Nikolaus’ V. eigenes Exemplar von De causa Dei ist in Vat. lat. 1040 enthalten: A. Manfredi, I codici latini di Niccolò V. Edizione degli inventari e
identificazione dei manoscritti, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica
Vaticana, 1994, 278-279, 302.
[iv]Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, Wien: Academia Caesarea Vindobonensis, 1869 (Ndr. Graz 1965) Bd. III. Der irreführende Titel im Katalog der ÖNB, der lange daran glauben ließ, dass diese Handschriften nicht zur Genesisauslegung gehören, deutet richtig auf den Inhalt der philosophischen Beschäftigung von Langenstein und ihre Nähe zur Theodizee von Leibniz hin. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen,Berlin: Akademie Verlag, 1996.
[vi] Zu Cod. 4718 und anderen autographen
Handschriften des Genesiskommentars siehe M. Shank, ʻAcademic Benefices and
German Universities during the Great Schismʼ, Codices manuscripti 7 (1981): 33-47.
[vii] Die von Thomas Hohmann etablierte Liste
von Langensteins Werken dient immer noch als Referenz: Th. Hohmann,
ʻInitienregister der Werke Heinrichs von Langensteinʼ, Traditio 32 (1976): 399-426. Neues zum Schrifttum von Langenstein
wurde zuletzt mit der Zuschreibung von vier Predigten an Langenstein geliefert:
F. P. Knapp, ‘Die ältesten aus dem deutschen Sprachraum erhaltenen
Judenbekehrungspredigten’, MIÖG 109
(2001): 105-117 (auch hier spielt Wien, ÖNB, Cod. 4830 eine bedeutende Rolle);
und zu Langensteins Pariser Zeit: M. Brînzei und Ch. Schabel,
ʻHenry of Langensteinʼs Principium on
the Sentences, His Fellow Parisian
Bachelors, and the Academic Year 1372-73ʼ, Vivarium
58 (2020): 335-346.
[viii]
Basel, Universitätsbibliothek, A-X-44, fols. 86r-87r überliefert Ausschnitte aus diesem kurzen,
spannenden Traktat – bzw. dem Genesiskommentar – von Heinrich von Langenstein.
Zu dieser Handschrift siehe das RISE Projekt, das eine online zugängliche
Transkription des ganzen Codex vorbereitet: https://rise-ubb.com/ (14.3.2021).
[x] Mehr zur Struktur und Thesen im
Traktat von Heinrich von Langenstein folgt in E.A. Lukács, Divine Knowledge, the Bible, and the Sentences at the University of Vienna (1384-ca. 1420), in Vorbereitung.
Dieser Iter Austriacum Beitrag ist
aus Forschungen zum FWF Projekt V356-G19 „Oxforder Theologie an der Universität
Wien“ entstanden.
Veröffentlicht unterUncategorized|Kommentare deaktiviert für Als die Päpste Thomas Bradwardine lasen
Frühmittelalterliche Graffiti gehören zu den großen Raritäten unserer Schriftkultur. Im deutschen Sprachraum gilt dies in besonderer Weise für Graffiti in Minuskelschrift. Bernhard Bischoff publizierte 1966 drei Graffiti aus dem 10./11. Jahrhundert, die an den Wänden der Torhalle der Michaelskapelle von Frauenwörth im Chiemsee entdeckt wurden[1]. Die drei Jahre zuvor publizierten, in Buchstabennotation aufgezeichneten Melodien in der Klosterkirche von Corvey aus dem späten 9. oder frühen 10. Jahrhundert bezeichnete er damals als „die einzigen anderen frühmittelalterlichen Graffiti in Minuskel, die in Deutschland aufgedeckt wurden“[2]. Mittlerweile wurde 1976 in der ehemaligen Stiftskirche von St. Peter und Paul in Reichenau-Niederzell eine „entsorgte“ Altarplatte gefunden, die im frühen 12. Jahrhundert mit der Oberseite nach unten als Baumaterial für den neu errichteten Hochaltar verwendet worden war[3]. Auf ihr befindet sich eine Fülle von Namen als flache Kratzungen und tiefer gehende Ritzungen, beide mit „Schreibschriftcharakter“, darüber aber auch – „auf dem ‚Beschreibstoff‘ Stein singulär“ – mit Tinte geschrieben[4]. Die Ritzungen wurden mit der gebotenen Vorsicht „in das beginnende 10. Jahrhundert“ datiert. Die Schwierigkeiten liegen darin, dass „epigraphische Kriterien nicht anwendbar sind und schreibschriftliche Ritzungen als Vergleichsbeispiele nur in geringer Zahl überliefert sind“[5]. Die Beschriftungen in Tinte dürften aus dem 10. und 11. Jahrhundert stammen[6]. Andere vergleichbare Überlieferungen aus dem deutschen Sprachraum sind bisher nicht bekannt. Altarplatten mit Namenseintragungen aus dem 8. bis 11. Jahrhundert gibt es in Südfrankreich, Memorialeinträge vom 6./7. Jahrhundert bis ins 10. Jahrhundert finden sich im Chor des Domes von Poreč (Parenzo) in Istrien an den Wänden, eingeritzte langobardische Namen vom 7. bis 9. Jahrhundert wurden 1956 in S. Angelo auf dem Monte Gargano entdeckt[7]. In der Schweiz haben sich geritzte Grabnotizen aus dem 6./7. Jahrhundert in der Abtei St-Maurice (Kanton Wallis) erhalten sowie Graffiti des 9./10. Jahrhunderts in Müstair (Graubünden)[8].
Überraschung versprach das
Bild eines Graffito, das bei einem Besuch in Regensburg aufgenommen worden war:
der Name Sundarheri, eingeritzt in
einen breiten dunkelroten Streifen von Wandmalerei. Das Bild war zwar nicht
ganz scharf, aber hinreichend für eine erste paläographische Grobdatierung der
Schrift in die Zeit um 800[9].
Nach einer ersten Umschau in der Fachliteratur nützte ich die nächstbeste
Gelegenheit, mir vom Graffito und seiner Umgebung an Ort und Stelle selbst ein
Bild zu machen.
In der Ringkrypta von St.
Emmeram, dem ältesten erhaltenen Teil der Klosterkirche, einem tonnengewölbten
Ringgang um die Mittelapsis, wurden 1952 und 1962–1964 Reste von in
Kalkseccotechnik ausgeführten Wandmalereien freigelegt. Neben Flechtornamenten
und Rankendekor waren auch gerahmte, nur bruchstückhaft erhaltene Schriftbänder
zum Vorschein gekommen. Die Ringkrypta gilt als Bestandteil der unter
Abtbischof Sintbert (768–791) gebauten Klosterkirche, als deren Baujahr die
Annales Ratisponenses 783 angeben. 791 wird die cripta sancti Emmerami urkundlich erwähnt, ein „zuverlässige(r)
terminus ante quem für die Datierung der Ringkrypta“. Aus der Überlegung, dass
der technische Befund einen nur unerheblichen Abstand zwischen der Bauzeit und
der Malerei nahelegt, der mit „maximal einer Generation“ veranschlagt wurde,
„ergibt sich eine Datierung um 800 oder im frühen 9. Jahrhundert“. Da im
Bereich der Wandmalerei vergleichbare Beispiele nicht bekannt sind und die
Buchmalerei der Zeit „keine überzeugenden Anhaltspunkte“ liefert, kam für eine
Stütze der Datierung nur die epigraphische Analyse in Betracht[10].
Sebastian Scholz, dem diese
Aufgabe anvertraut worden war, fasste als Ergebnis seiner Untersuchungen
zusammen: „Aufgrund des fehlenden Vergleichsmaterials stößt die Methode der
Datierung durch den paläographischen Vergleich hier an ihre Grenze. Es läßt
sich kein positiver Beweis dafür erbringen, daß die Inschrift der Ringkrypta im 8. Jahrhundert oder zu
Beginn des 9. Jahrhunderts entstand. Trotzdem ergeben sich aus der
paläographischen Analyse wertvolle Anhaltspunkte für die Datierung der
Inschrift, weil die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts und das 11. Jahrhundert
mit ziemlicher Sicherheit als Entstehungszeitraum ausgeschlossen werden können.
Da die Inschrift zudem keine Merkmale der nach 830 gebräuchlichen
karolingischen Kapitalis zeigt, weisen alle Beobachtungen zusammengenommen auf
ihre Entstehung vor 830 hin“[11].
Auf die von Hans K. Ramisch 1962 erwähnten eingeritzten Pilgerinschriften, die
„noch entziffert werden“ müssen[12],
sowie auf das Graffito Sundarheri ist
Scholz nicht eingegangen[13].
Die erwähnten Pilgerinschriften waren im Rahmen einer Führung in St. Emmeram leider nicht zu sehen, wohl aber das Graffito Sundarheri, dessen Lokalisierung mir bekannt war.
Dieses Graffito – Breite ca. 7,5 cm – vermag einen wichtigen Hinweis auf die Datierung der Ringkrypta zu geben. Es ist eingeritzt in den breiten dunkelroten Streifen der Wandmalerei an der Innenseite des nördlichen Teils der Ringkrypta, unmittelbar rechts neben der Nische im Scheitel der Apsis mit der Verschlussplatte der Emmeram-Confessio, oberhalb des viele Jahrhunderte später angebrachten schmiedeeisernen Gitters.
Dem Buchstabenbefund nach ist die Schrift als frühkarolingische Minuskel einzustufen mit einem Maiuskel-Anfangsbuchstaben. Der allgemeine Eindruck ließe zunächst zwar an eine vorkarolingische Schreibweise denken, doch würde man dann eher eine offene, cc-förmige Gestalt des a erwarten. Die geschlossene „unziale“ Form des a, dessen linker Teil durch in spitzem Winkel zusammenlaufende Bögen gebildet wird, entspricht indes – als eines der „Leitfossilien“ – eindeutig der karolingischen Minuskel. Der Buchstabe n ist in der Minuskelform geschrieben, d in der geraden Form. Die Oberlänge des d wirkt verstärkt. Der Schaft des r reicht sehr weit unter die Zeile, der Schulterstrich setzt bereits auf der Höhe der Basislinie am Schaft an, der Buchstabe wirkt dadurch stark gespalten. Der leicht nach links geneigte Schaft des h ist leicht geschwungen, der stark gerundete Bogen reicht krallenförmig unter die Zeile. Die Ligaturengruppe eri zeigt ein fast doppelstöckiges e, jedenfalls mit großer Öse, aus dessen Zunge der weit unter die Basislinie reichende Schaft des r gezogen wird, dessen Schulterstrich weiterleitet zu einem i mit geradem Abschluss des Schaftes. Es ist auffällig, dass die ri-Ligatur in dieser Form geschrieben wurde und i nicht in der Form einer nach unten, weit unter die Zeile verlängerten Fahne des r. Bei u fällt auf, dass der zweite Schaft nicht gerade abschließt, sondern mit einem ganz leichten Abstrich nach rechts ausläuft. Der Abstrich des n schließt ebenfalls nicht gerade ab, er wird elegant weit nach rechts umgebogen. Dass der Buchstabe d in seiner Proportion nicht die Qualität der anderen Buchstaben aufweist, dass der Bogen des anschließenden a zu knapp an d anschließt – möglicherweise liegt dies an den Schwierigkeiten, die das Kratzen im Malgrund mit sich brachte, noch dazu in einer solch unbequem hohen Position. Mit einer Feder auf Pergament schreibt es sich leichter.
Insgesamt hat man hier jedenfalls eine Schriftprobe von hoher Qualität vor sich. Der Schreiber konnte nicht bloß schreiben in der Art eines Gelegenheitsschreibers, die Schrift weist auf einen geübten, routinierten Schreiber von Format. Ein einzelnes Wort, hier ein Name, noch dazu in dieser ungewöhnlichen Schreibsituation, ist paläographisch ungleich schwieriger zu beurteilen als ein längerer Text. Unter den acht verschiedenen Minuskelbuchstaben finden sich nur zwei, deren Eigenheiten von der „Norm“ der karolingischen Minuskel etwas abweichen. Die starke Unterlänge bei r und die Kralle bei h wirken wie Spuren von angelsächsischer Prägung. Insgesamt wird man die Schrift – mit aller gebotenen Vorsicht – vor allem aufgrund des Gesamteindrucks als frühkarolingische Minuskel aus der Zeit um 800 ansprechen. Für eine Lokalisierung der Schrift sind die paläographischen Merkmale nicht ausreichend. Es handelt sich jedenfalls nicht um eine alemannische Minuskel mit den von Natalie Maag herausgestellten Merkmalen[14].
Als wichtiges, die Datierung stützendes Indiz kann
das räumliche und zeitliche Vorkommen der Belege für den Personennamen
Sundarheri gewertet werden. Der Name kommt ausgesprochen selten vor; man hat
ihn geradezu als „ungebräuchlich“ bezeichnet[15].
Dem Freisinger Diakon Sundarheri, dem „Lieblingsnotar“ des Bischofs Arbeo von
Freising, hat Wilhelm Störmer eine eigene Studie gewidmet[16].
Er war offensichtlich ein Angehöriger einer reichen und einflussreichen
Adelssippe im Umkreis des bischöflichen Eigenklosters St. Zeno zu Isen, ein
Vertrauter des Bischofs Arbeo, nach Störmers Einschätzung „offensichtlich auch
Vertrauensperson Herzog Tassilos III.“[17]. Joachim
Jahn zählt ihn zur berühmten Sippe des Toto „von Zollern“[18]. Als
Schreiber im Dienst des Bischofs Arbeo war Sundarheri 765, 767 und – mit
Unterbrechungen – namentlich von 772 bis 782 tätig[19]. Als
Diakon bezeichnete er sich seit 776[20]. Nach
Arbeos Tod († 783) lässt sich Sundarheri wiederholt als Zeuge von Traditionen
nachweisen, als Schreiber nur noch ganz vereinzelt[21].
Es lässt sich indes nicht ausnehmen, aus welchen Gründen er nicht mehr öfter
als Schreiber herangezogen wurde. Das letzte Lebenszeichen stammt aus dem Jahr
818, als er sich seiner bischöflichen Lehen in Isen und Albaching begab,
vielleicht auch begeben musste[22],
wohl ein Zeichen dafür, dass er mit dem Ende seines Lebens rechnete.
Ein enger Verwandter dürfte jener Sundarheri
gewesen sein, der zur Erstausstattung des Klosters in Isen wohl 748 eine
bedeutende Schenkung beitrug[23].
Mit diesem älteren Sundarheri könnte nach Störmer der in der Schäftlarner
Gründungsurkunde 772 als Zeuge auftretende Sundarheri identisch sein[24]. Als
Schenker eines Waldes an das Freisinger Eigenkloster Schäftlarn ist im letzten
Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts ein Sundarheri belegt[25],
der nicht eindeutig zuzuordnen ist, aber jedenfalls nicht als Diakon bezeichnet
wurde. Wenn der Diakon Sundarheri 791 eine Urkunde über eine Schenkung schrieb,
die ein Sundarheri der Freisinger Kirche nach seinem Lebensende vermachte, so
ist kaum anzunehmen, dass der Schreiber mit dem Schenker identisch war. Es wird
sich um einen gleichnamigen Verwandten gehandelt haben[26]. Im
Übrigen machte Störmer darauf aufmerksam, es sei „immerhin … auffällig, dass
Sundarheri für mehrere –heri-Namensträger die Urkunden schreibt“[27].
In den erhaltenen süddeutschen Nekrologen kommt der Name Sundarheri nicht vor. Zwei Belege aus Verbrüderungsbüchern sind bisher in Arbeiten, die auf Personen mit dem Namen Sundarheri eingehen, nicht berücksichtigt worden. Der im Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau unter den Fratres der Benediktinerabtei Leno (Badia Leonense) bei Brescia (de monasterio quod vocatur Leonis) eingetragene Sunderari[28], über den sonst nichts in Erfahrung zu bringen ist, kommt wohl nicht in Frage. Und im älteren Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg, das im Jahr 784 angelegt wurde, findet sich unter der Rubrik Ordo communis virorum defunctorum als sehr früher Nachtrag – man beachte auch den Maiuskel-Anfangsbuchstaben im Gegensatz zu den vorhergehenden ausnahmslos mit Minuskel-Anfangsbuchstaben eingetragenen Namen – ein Sundarheri, wie üblich ohne jegliche weitere Angaben[29]. Näheres ist über ihn nicht zu eruieren. Der Eintrag ist mit einiger Vorsicht ins frühe 9. Jahrhundert zu datieren. Um den Freisinger Diakon Sundarheri kann es sich bei diesem Verstorbenen aber nicht handeln. Denn zwei Seiten davor gibt es eine eigene Rubrik Ordo sacerdotum vel diaconorum defunctorum. Hätte der Freisinger Diakon im St. Peterer Verbrüderungsbuch Aufnahme gefunden, wäre er unter den Diakonen verzeichnet worden.
Aus dem extrem kleinen Kreis von Personen, die den
offenkundig seltenen Namen Sundarheri tragen und wohl einer einzigen Adelssippe
angehören, ist nur von dem Freisinger Diakon Sundarheri bekannt, dass er, ein
Kleriker, schreiben konnte. Laien aus seinem familiären Umfeld brauchten nicht
schreiben zu können. Leider sind die Freisinger Traditionen von der Hand des
Diakons nur kopial als spätere Eintragungen im Freisinger Traditionsbuch, das
der Freisinger Notar Cozroh 824 anlegte[30], überliefert,
sodass wir uns von seiner Art zu schreiben kein direktes Bild machen können.
Ein weiteres Argument kann die Wahrscheinlichkeit
stützen, dass es der Freisinger Diakon Sundarheri war, der in St. Emmeram
seinen Namen als Graffito hinterließ. Die enge Beziehung seines bischöflichen
Herrn zum Hl. Emmeram ist bekannt. Es war Bischof Arbeo, der die Vita S. Emmerami verfasste[31],
und man darf wohl annehmen, dass er namentlich zum Kloster St. Emmeram Beziehungen
unterhielt. Den Bau der Ringkrypta dürfte Arbeo nicht mehr erlebt haben, aber
es wäre gut vorstellbar, dass sein Diakon Sundarheri dem Emmeramsgrab zu einem
späteren Zeitpunkt, vielleicht auch öfter, seine Reverenz erwies und bei einer dieser
Gelegenheiten das Graffito anbrachte. Wenn Sundarheri seit 765 als Schreiber
des Bischofs tätig war, wird er zumindest vor 750 geboren worden sein. 818, im
Jahr seines letzten Lebenszeichens, wäre er demnach um die 70 Jahre alt
gewesen. Die sichere Schreibweise des Graffito würde man eher einem Jüngeren
zutrauen. Der paläographische Datierungsansatz „um 800“ stünde durchaus in
Einklang mit der Vorstellung, dass Sundarheri damals um die 50 Jahre alt war.
Es wurde primär wohl auch damals nicht sehr
geschätzt, dass jemand seinen Namen in die ziemlich neue Wandmalerei kratzte
und sich damit „verewigte“. Menschlich verständlich ist auf der anderen
Seite das Bestreben, an einer besonderen Stätte der Verehrung durch
Hinterlassen des Namens auf Dauer „präsent“ zu sein. Im konkreten Fall war
es für Sundarheri, den wir mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Freisinger
Diakon Sundarheri halten, wohl ein persönliches Anliegen, mit seinem Namen in
größtmöglicher Nähe des Hl. Emmeram ein Zeichen der dauerhaften Präsenz zu
setzen.
[2] Bischoff, Bemerkungen (wie Anm. 1) 276. Zu den Graffiti von
Corvey s. Felix Kreusch,
Beobachtungen an der Westanlage der Klosterkirche zu Corvey (Bonner Jahrbücher,
Beihefte 9, Köln/Graz 1963) 49ff. und
Abb. 26–30.
[8] S. bei Detlev Kraack und Peter Lingens, Bibliographie zu historischen Graffiti zwischen Antike und Moderne (Medium Aevum Quotidianum, Sonderbd. 11, Krems 2001) 209 Nr. 1642 und 1645 die detaillierten Hinweise auf die Bände 1 (1977) und 5 (1997) des Corpus Inscriptionum Medii Aevi Helvetiae. Die frühchristlichen und mittelalterlichen Inschriften der Schweiz.
[9]
Der Hinweis und das Bild sind der Aufmerksamkeit
von Eva Regina Stain (Wien) zu danken, die mein
Faible für Graffiti kennt und teilt (Winfried
Stelzer, Datierte steirische Graffiti des 14.
und 15. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark
107 [2016] 37–61, hier 42 Anm. 22 und 60 Nr. 25). Für die Mitteilung möchte ich
ihr herzlichst danken.
[11] Sebastian Scholz, Gemalte
monumentale Inschriften. Paläographische Einordnung ausgewählter
frühmittelalterlicher Denkmäler aus Bayern, in: Walter Koch und Christine Steininger
(Hgg.), Inschrift und Material (wie Anm. 10) 31–44, hier 36–38 über die
Ringkrypta, das wörtliche Zitat 38, dazu Tafel 5 Abb. 8 a und b (S. 36 irrig
als „Abb. 6 a, b“ zitiert).
[12] Walter Haas, Max Piendl,
Hans K. Ramisch, Beiträge zur Baugeschichte von St. Emmeram in Regensburg.
Ramwoldkrypta, Ringkrypta, Kapitelsaal, in: Thurn und Taxis-Studien 2 (Kallmünz
1962) 127–156, hier 146–153 Hans K. Ramisch, Die Wandmalereien in der
Ringkrypta und im Verbindungsgang zur Ramwoldkrypta, 148 der Hinweis auf die
Pilgerinschriften. Der Hinweis wurde wiederholt bei Hans Ramisch, Die
Flechtbandmalereien in der Ringkrypta von St. Emmeram in Regensburg, in:
Ratisbona Sacra. Das Bistum Regensburg im Mittelalter. Ausstellung anläßlich
des 1250jährigen Jubiläums …, Diözesanmuseum Obermünster Regensburg … 1989
(München/Zürich 1989) 200–201 Kat.-Nr. 106, hier 201.
[13] Wie mir Sebastian Scholz
(Universität Zürich) am 23. Juni 2020 mitteilte, hatte er damals den „Auftrag
des Bayerischen Landesdenkmalamtes, Schriftbänder in der Ringkrypta zu
analysieren, bevor diese aus konservativen Gründen wieder überdeckt wurden.“
Graffiti waren davon nicht betroffen.
[14] Natalie Maag,
Alemannische Minuskel (744–846 n. Chr.). Frühe Schriftkultur im Bodenseeraum
und Voralpenland (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des
Mittelalters 18, Stuttgart 2014). – Die paläographische Beurteilung und
Einschätzung der Schrift des Graffito fand die Zustimmung von Bernhard Zeller
(Wien), mit dem ich die Probleme diskutieren konnte. Für seine
Hilfsbereitschaft möchte ich ihm herzlich danken. – Die Durchsicht der
wichtigsten einschlägigen paläographischen Publikationen von Bernhard Bischoff
(Die Südostdeutschen Schreibschulen I und II, Kalligraphie in Bayern, Katalog
der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts) sowie der CLA war
nicht ergiebig.
[15] Maria Neumann, Die bairische Volksordnung zur Karolingerzeit auf Grund genealogischer Untersuchungen (ungedr. phil. Diss. der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen 1947) 205.
[16] Wilhelm Störmer, Sundarheri
scriptor, der Lieblingsnotar Bischof Arbeos in den Traditionen Freising, in:
Theo Kölzer u. a. (Hgg.), De litteris, manuscriptis, inscriptionibus …
Festschrift zum 65. Geburtstag von Walter Koch (Wien/Köln/Weimar 2007) 17–25. –
S. auch Neumann, Die bairische Volksordnung (wie Anm. 15) 205–211.
[18] Joachim Jahn, Bayerische „Pfalzgrafen“ im 8. Jahrhundert? Studien zu den Anfängen Herzog Tassilos (III.) und zur Praxis der fränkischen Regentschaft im agilolfingischen Bayern, in: Früh- und hochmittelalterlicher Adel in Schwaben und Bayern (Regio 1, Forschungen zur schwäbischen Regionalgeschichte, Sigmaringen 1988) 80–114, hier 110ff. sowie ders., Virgil, Arbeo und Cozroh. Verfassungsgeschichtliche Beobachtungen an bairischen Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 130 (1990) 201– 292, hier 248.
[24] Alois Weissthanner, Die
Traditionen des Klosters Schäftlarn 760–1305 (Quellen und Erörterungen zur
bayerischen Geschichte N.F. 10/1, München 1953) 6 Nr. 1b, dazu Störmer, Sundarheri (wie
Anm. 16) 23 Anm. 35.
[25] Weissthanner, Die Traditionen (wie Anm. 24) 17ff. Nr. 12, dazu Störmer, Sundarheri 23 Anm. 35.
[26] So Störmer, Sundarheri 23 bei
Anm. 32 gegen seine eigene frühere Ansicht Wilhelm Störmer, Adelsgruppen im
früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur bayerischen Verfassungs-
und Sozialgeschichte 4, München 1972) 129 und gegen Gottfried Mayr, Studien zum
Adel im frümittelalterlichen Bayern (Studien zur bayerischen Verfassungs- und
Sozialgeschichte 5, München 1974) 32.
[28] Paulus Piper (ed.), Confraternitates Augienses, in: MGH Libri confraternitatum Sancti Galli, Augiensis, Fabariensis ed. Paulus Piper (Berlin 1884) 145–352, hier 175 Sp. 68 Nr. 25; Facsimile: Johanne Authenrieth, Dieter Geuenich und Karl Schmid (Hgg.), Das Verbrüderungsbuch der Abtei Reichenau (Einleitung, Register, Faksimile) (MGH Libri memoriales et necrologia, N. S. I, Hannover 1979) p. 18 Sp. A Abschnitt 3 (Farbdigitalisat der Seite).
[29] Ausgabe: Sigismundus Herzberg-Fränkel (ed.), Monumenta necrologica monasterii S. Petri Salisburgensis, in: MGH Necrologia Germaniae 2: Dioecesis Salisburgensis (Berlin 1904) 3–64, hier 31 Sp. 77 Z. 41; Facsimile: Karl Forstner, Das Verbrüderungsbuch von St. Peter in Salzburg (Codices Selecti phototypice impressi 51, Graz 1974) p. 22, Spalte 5, vorletzte Zeile (Digitalisat der Seite).
[31] Bernhard Bischoff (Hg.), Arbeo: Vita et passio sancti Haimhrammi martyris. Leben und Leiden des hl. Emmeram (München 1953) (kostenpflichtige Version).
In einer vom Auktionshaus Christie’s für den Zeitraum 1. bis 16. Oktober 2020 angesetzten Online-Auktion wird als lot 84 ein „Austrian chained binding“ angeboten, das ein 1440 datiertes Papiermanuskript, enthaltend einen Traktat aus dem Umkreis der Universität Wien und Predigten, umschließt.
Die online zugängliche Beschreibung ist freilich, was die Besitzgeschichte der Handschrift betrifft, nicht ganz akkurat, und sie lässt sich außerdem in einem wichtigen Punkt ergänzen.
Zur „Provenance“ der Handschrift heißt es: „Piarists of Vienna (early inscription) – Johann Ernst von Jamaigne (1648-1719, Protonotary Apostolic in Waidhofen an der Thaya; engraved armorial bookplate) – Sotheby’s, 15 December 1953, lot 106 (bought through Offenbacher) – Cornelius J. Hauck (his sale, Christie’s New York, 27 July 2006, lot 106).“ Nun waren die Piaristen von Maria Treu in Wien unzweifelhaft Eigentümer der Handschrift, wie der auch in der Beschreibung erwähnte Besitzvermerk zeigt:
Allerdings befand sich die Handschrift erst ab 1719 in den Händen der Piaristen, deren Wiener Niederlassung sich damals auch erst in Errichtung befand. Der derzeit erste bekannte Besitzer war vielmehr der von Christie’s an zweiter Stelle genannte Weltpriester Johann Ernst Jamaigne (Jamagne), der seine Bibliothek den Wiener Piaristen vermacht hatte. Jamaigne – sein Name findet sich in zahlreichen Schreibweisen, von denen auch nicht alle in der GND erfasst sind – wurde 1648 wahrscheinlich in Wien geboren und ist am 10. Dezember 1719 als Pfarrer und Dechant von Waidhofen an der Thaya verstorben. Seit 1673 war er Priester und zunächst als Vikar (in dieser Zeit erwarb er außerdem ein Doktorat der Universität Padua) und dann Pfarrer in Altpölla tätig. Er war ein engagierter Seelsorger, Prediger und Autor – außerdem besaß er aber eine stattliche Sammlung mittellalterlicher Handschriften. Auf diesen Aspekt seiner Biographie[1] wird vielleicht einmal in einem anderen Iter-Beitrag eingegangen werden. Hier sind sein Name und die Erwähnung der Wiener Piaristenbibliothek aber vor allem ein Hinweis auf den nächsten Besitzer der Handschrift, der in der Katalogbeschreibung leider unterschlagen wird.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute der österreichisch-ungarische Adelige, Abenteurer und Philantrop Graf Johann Nepomuk Wilczek (1837-1922) die Ruine der in der Nähe von Korneuburg bei Wien gelegenen Burg Kreuzenstein wieder auf und richtete sie als Museum für seine umfangreichen Sammlungen ein.
Zu diesen Sammlungen gehörte auch eine Bibliothek mit einem nicht unbedeutenden Bestand an mittelalterlichen Handschriften und Inkunabeln, deren wesentlichen Bestandteil die von Wilczek zu einem leider nicht genau bekannten Zeitpunkt erworbenen Handschriften der Wiener Piaristenbibliothek bildeten. Einen ausführlichen Überblick über den Handschriftenbestand hat Franz Lackner 1999 veröffentlicht[2]; ein von ihm am 1. März 2000 erstelltes Update der Handschriftenliste findet sich hier.
Dass sich die derzeit bei Christie’s angebotene Handschrift tatsächlich in der Kreuzensteiner Bibliothek befunden hat, lässt sich sicher nachweisen. Den Angaben im Auktionskatalog zufolge enthält der Codex zunächst den Tractatus de duodecim partibus fidei des Magister Nicolaus de Gretz. Dieser Text kann nach seinem Initium Dilectissimi quicumque homo habens usum rationis vult venire in regnum celeste … unschwer genauer identifiziert werden als die Expositio symboli apostolorum des Nicolaus de Graetz. Der Autor dieses in zahlreichen Handschriften überlieferten Textes (Stegmüller, RB 5813 und Ergänzungsband) ist Nikolaus von Graz , der im Sommersemester 1415 an der Universität Wien immatrikuliert wurde und sein gesamtes weiteres Leben in Wien verbrachte. Nach dem Erwerb des Magistergrades der Artes (1421) begann er ein Studium der Theologie, das er 1439 mit dem Erwerb des Doktorats bekrönte. Schon am 28. September 1436 wurde er als Kanoniker des Kapitels von St. Stephan installiert. Vor dem 4. Oktober 1441 ist er verstorben[3].
Auf Blatt 96v, nach dem Ende der Expositio, findet sich ein mit 17. Februar 1440 datierter Schreibervermerk: Explicit tractatus de duodecem [!] partibus fidei, finitus feria tertia proxima post festum Valentini per manus Petri Bawtz moraui de Olomuntz, Anno domini etc. 40.
Im – kodikologisch eine ursprünglich selbstständige Einheit gewesenen – zweiten Teil der Handschrift (f. 97-406) ist der Winterteil einer Predigtsammlung überliefert, deren genauere Bestimmung der Auktionskatalog nicht bietet und die aufgrund unzureichender Anhaltspunkte auch hier nicht versucht werden kann.
Einen sicheren Hinweis auf die Bibliothek der Burg Kreuzenstein liefert die auf einem auf dem Hinterdeckel aufgeklebten Papierschild eingetragene Nummer 5874, die auch mit Bleistift auf f. 1r vermerkt ist.
Diese Nummer verweist auf den einzigen derzeit bekannten Gesamtüberblick über den Inhalt der Kreuzensteiner Sammlung, ein um 1910 erstelltes gedrucktes Inventar über den „Fideikommiss Burg Kreuzenstein“. Die wie alle Einträge extrem knapp gehaltene Angabe zur Nummer 5874 lautet „Nicolaus de Grätz I, Man., Pap., XV., Folio“[4] und stimmt somit mit dem Inhalt des bei Christie’s angebotenen Bandes überein.
Nur nebenbei sei erwähnt, dass Ms. 5874 einer der beiden Trägerbände der Fragmente des sogenannten Kreuzensteiner Passionsspieles ist, die der Germanist Joseph Strobl, der viele Jahre lang als Bibliothekar für Graf Wilczek tätig war, ausgelöst und veröffentlicht hatte, bevor sie 1915 bei einem Brand in Kreuzenstein vernichtet worden sind[5].
Zum Schluss soll noch auf einen Aspekt der Handschrift hingewiesen werden, der aus der Sicht des Auktionshauses wohl besonders attraktiv ist – der Codex ist ein Kettenband: „Intact codices from medieval chained libraries are extremely rare at auction“. Ohne dazu ein abschließendes Urteil äußern zu können, sind hier allerdings gewisse Vorbehalte angebracht. Es ist auffällig, dass viele aus der Kreuzensteiner Bibliothek stammende Handschriften Kettenbände sind – so etwa die vier Bände des sogenannten Kreuzensteiner Legendars (seit 1992 Wien, ÖNB Cod. Ser. n. 35753 – dieser Band ist digitalisiert, 35754, 35755 und 35756). Schon Walter Jaroschka und Alfred Wendehorst haben in ihrem 1957 veröffentlichten Aufsatz über das Legendar festgestellt, daß Wilczek die Bände „wie auch einige andere Handschriften seiner Bibliothek durch Anbringung von Ketten am hinteren Rückendeckel zu einem liber catenatus adaptieren“ ließ[6] und damit die Ketten ins 19. Jahrhundert datiert.
Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 35753, Hinterdeckel
Graf Wilczek versuchte mit dem Wiederaufbau von Kreuzenstein nichts weniger als die perfekte mittelalterliche Burg zu verwirklichen; die darin beherbergte Bibliothek sollte eine perfekte mittelalterliche Bibliothek sein – mit angeketteten Bänden. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Ketten an den Kreuzensteiner Handschriften nicht aus dem Mittelalter stammen, sondern das Ergebnis historistischen Gestaltungswillens sind. Aber zur abschließenden Klärung dieser Frage sind weitere vergleichende Untersuchungen notwendig, die durch die außerordentlich betrübliche Zerstreuung der Bibliothek sehr erschwert sind.
Nachtrag 18.10.2020: die Handschrift wurde für 25000 $ (inkl. „buyer’s premium“) verkauft. Falls jemandem die erwerbende Institution / Person bekannt ist, bin ich für eine Mitteilung (Email) sehr dankbar.
[2] Franz Lackner, Handschriften aus der Burg Kreuzenstein in der Österreichischen Nationalbibliothek (Codices Ser. n. 31.373, 32.850, 35.704, 35.746, 35.753-35.756 und 38.978), in: Codices manuscripti Heft 27/28 ( September 1999) 9-36.
[3] Sein akademischer Lebenslauf ist übersichtlich hier zusammengefasst: Nikolaus de Greczz super Mura (RAG-ID: ngND2Y678Nl46cjdhMmc0) (6.10.2020). Einen Überblick über ihm zugeschriebene Werke gibt Xystus Schier, Specimen Styriae literatae (Wien o. J. [c. 1769]) (ÖNB-Digitalisat) p. 6. Vgl. auch Joseph Aschbach, Geschichte der Universität Wien im ersten Jahrhunderte ihres Bestehens (Wien 1865) p. 467-469 (Digitalisat) sowie Hermann Göhler, Das Wiener Kollegiat-, nachmals Domkapitel zu St. Stephan in Wien 1365-1554. Hrsg. v. Johannes Seidl, Angelika Ende und Johann Weißensteiner (Wien / Köln / Weimar 2015) 296 Nr. 157.
[4] Eingesehen wurde das unter der
Signatur G 505 in der Bibliothek des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten verwahrte Exemplar.
[5] Joseph Strobl, Kreuzensteiner Passionsspiel, in: Joseph Strobl, Aus der Kreuzensteiner Bibliothek. Studien zur deutschen Literaturgeschichte (Wien 1907) 3-23 (Digitalisat) (auch, mit gleicher Paginierung, Halle 1909, Digitalisat).
[6] Walter Jaroschka – Alfred Wendehorst, Das Kreuzensteiner Legendar. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Hagiographie des Spätmittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65 (1957) 369-418, hier 370. Auch Franz Lackner lässt in seiner Beschreibung des Ms. 5667 im Katalog der Datierten Handschriften in Niederösterreichischen Archiven und Bibliotheken (online zugänglich hier) leise Zweifel erkennen, ob die Reste der am Einband vorfindlichen Kette original sind.
Auf der Suche nach noch unbekannten Werken versuchten Forscher bereits im 19. Jahrhundert ihr Glück bei als Makulatur in Einbänden erhalten gebliebenen Fragmenten. Bei der Erforschung wurden beispielsweise als Spiegelblätter eingeklebte Pergamentstücke oft kurzerhand abgelöst, die Trägerbände aber nur selten notiert. Solch zerrissene Überlieferungszusammenhänge sind heute ein Ärgernis der modernen Fragmentenforschung. In Projekten wie jenem zur Erforschung der Fragmente des Klosters Mondsee (gefördert durch GoDigital 2.0 der Österreichischen Akademie der Wissenschaften), dessen Ziel es ist, die Überlieferung aufzuarbeiten und online zur Verfügung zu stellen, können teilweise Trägerbände abgelöster Fragmente ausfindig gemacht werden. Umgekehrt finden sich in den Deckeln oft mehr oder weniger gut lesbare Leimabklatsche entnommener Stücke, für die wiederum nach den „Originalen“ gefragt werden muss.
Einen solchen Fall stellen die Leimabklatsche an den Innenseiten des Vorder- und Hinterdeckels eines Mondseer Codex der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien dar (ÖNB Cod. 4013, F-xhxj)[1]. Sie enthalten das niederländische Lehrgedicht Dietsche doctrinale in einer Abschrift des 14. Jahrhunderts[2]. Eine Recherche nach den Originalblättern in den Beständen der ÖNB war erfolglos, tatsächlich befinden sich die Fragmente heute unter der Signatur Ms. germ. fol. 751, Heft 7/fol. 29f (F-np2j) in der Staatsbibliothek zu Berlin (Rekonstruktion F-7x5c)[3].
Die zwei Blätter tragen den privaten Bibliotheksstempel des bedeutenden Germanisten August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der sich für die altniederländische Sprache besonders interessierte. Er hielt sich – wie auch aus seiner autobiographischen Lebensbeschreibung hervorgeht – 1834 im Lauf einer längeren Forschungsreise auch in Wien auf. Er bearbeitete dort unter anderem gemeinsam mit dem Botaniker und damaligen Skriptor der Hofbibliothek Stephan Endlicher die althochdeutschen „Monseer Fragmente“ in der Hofbibliothek (heute ÖNB Cod. 3093*). Endlicher durchsuche für die kurz danach erschiene Edition des Textes alle Mondseer Handschriften der Bibliothek und stieß dabei wahrscheinlich auch auf das Fragment des Dietsche Doctrinale[4]. Ob Hoffmann von Fallersleben schon zu diesem Zeitpunkt in den Besitz der Blätter kam, ist nicht geklärt. Dass die Fragmente tatsächlich in seinem Besitz waren, geht jedoch auch aus anderen Quellen hervor. Im Jahr 1846 war er gezwungen, seine Privatbibliothek zum Kauf anzubieten; in dem im Druck erschienenen Verkaufskatalog finden sich die Stücke unter der Nummer XXIV.7 (Bruchstücke niederländischer Gedichte des 14.–15. Jahrhunderts) verzeichnet[5]. Seine Bibliothek wurde schließlich nach Berlin verkauft, wodurch der Weg der Fragmente des Dietschen Doctrinale von Wien nach Berlin einigermaßen geklärt ist.
[1]
Die Bibliothek des Klosters Mondsee wurde nach dessen Auflösung 1791 zerstreut,
die Handschriften kamen mehrheitlich an die Hofbibliothek, heute
Österreichische Nationalbibliothek.
[2] Im
Abklatsch repräsentiert sind in etwa die Verse 139–236 und 1130–1220 des 3.
Buches, der abgeklatschte Text ist aber in sehr schlechtem Zustand, teilweise
sind nur einzelne Buchstaben einer Zeile vorhanden.
[3] Gunilla Ljunggren verzeichnet in ihrem Werk zur mittelniederdeutschen Version „Leyen Doctrinal“ auch die fragmentarische Überlieferung des Dietschen Doctrinale. Darunter findet sich auch das damals noch als Depositum in Tübingen gelagerte Berliner Fragment, dessen Text sich zur Hälfte mit jenem in den Wiener Leimabklatschen (die schließlich nur die Hälfte des auf den Originalblättern erhaltenen Textes aufweisen können) deckt, womit ein wichtiger Hinweis auf die korrekte Identifizierung gewonnen wurde. Gunilla Ljunggren, Der Leyen Doctrinal. Eine mittelniederdeutsche Übersetzung des mittelniederländischen Lehrgedichts Dietsche Doctrinale (Lunder Germanistische Forschungen 35, Lund 1963) 26.
[4] [August Heinrich] Hoffmann von Fallersleben, Mein Leben. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Bd. 2 (Hannover 1868) 246–255; siehe auch: Elke Krotz, Auf den Spuren des althochdeutschen Isidor. Studien zur Pariser Handschrift, den Monseer Fragmenten und zum Codex Junius 25 (München 2002) 155f.
[5] [August
Heinrich Hoffmann von Fallersleben,] Bibliotheca Hoffmanni Fallerslebensis
(Leipzig 1846) 48; Eine Identifizierung mit den Leimabklatschen in Wien ist
durch die abgedruckten Anfänge der Kapitel eindeutig möglich.