Die Inkunabelfragmente des Ratsgymnasiums Stadthagen

Vor nunmehr 20 Jahren erschien der Band von Udo Jobst über die Bibliotheken des Ratsgymnasiums Stadthagen.[1] In seiner Monographie erwähnt Jobst u.a. auch die im Bestand des Ratsgymnasiums enthaltenen Inkunabeln und Frühdrucke.[2] Im Anschluss seiner Bestandsanalyse beschreibt er acht Einblattdrucke und „Bruchstücke“.[3]

Der Ablassbrief des Hinricus Kannegeter von 1483, gedruckt bei Bartholomäus Gothan in Lübeck, der nur in diesem einzigen bekannten Exemplar vorhanden ist, wurde in der Forschung bereits umfassend dargestellt.[4]

Fünf der sieben Fragmente wurden von Jobst völlig richtig beschrieben und sind im ISTC und im GW ebenfalls als Nachweis bekannt. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Texte:

1) Zwei Doppelblätter aus der Summa universae theologiae des Alexander de Hales aus dem Nürnberger Druck von Anton Koberger aus den Jahren 1481-1482.[5]

2) Zwei Einzelblätter aus dem Boek van der bedroffenisse Marien aus der Magdeburger Offizin des Johann Grashove, um 1480.[6]

3) Ein Blatt aus den Institutiones des Justinianus, gedruckt von Michael Wenssler in Basel, 31. V. 1476 [um 1477].[7]

4) Ein Doppelblatt aus der Pantheologia des Rainerius de Pisis, ebenfalls in Nürnberg gedruckt von Anton Koberger, 3. VIII. 1474.[8]

5) Zwei Doppelblätter aus einem Breviarium Halberstadense, von dem Speyerer Drucker Peter Drach, [vor dem 8. VII. 1482].[9]

Das von Jobst als Missale Lubicense (Lübeck: Matthaeus Brandis, 1486) identifizierte Blatt war bereits zur Drucklegung des Jobst’schen Bandes im Bestand nicht mehr nachweisbar.[10] Gleiches gilt für ein nicht näher identifiziertes lateinisches Gebetbuch, das um 1490-1500 gedruckt worden sein soll.[11] Im Bestand des Stadthagener Ratsgymnasiums befinden sich indessen ein weiteres Inkunabelfragment, welches Jobst nicht bekannt war.

Die Bibliothek des Ratsgymnasiums in Stadthagen wird heute im Niedersächsischen Staatsarchiv Bückeburg unter der Signatur Dep. 5 aufbewahrt. Die Bibliothek gliedert sich, begründet durch ihre Entstehung, in drei verschiedene Einzelbibliotheken: die Franziskanerbibliothek des 1486 gegründeten Franziskanerkonvents mit mindestens 150 Büchern,[12] die Schulbibliothek der alten Lateinschule und die Bibliothek des Ludolph Peitmann.[13]

Ludolph Peitmann stammte aus einer alteingesessenen Stadthagener Familie.[14] Sein Vater war der Kammerherr und Stadthagener Ratsherr Dietrich Peit(h)mann. Ludolph Peitmann wurde 1593 geboren.[15] Im Jahr 1620 erwarb er an der Universität Gießen den Grad eines Magisters.[16] Im Juni 1623 war an der Universität Rostock immatrikuliert.[17] Seit 1626 hatte er eine Pastorenstelle in Neubrandenburg inne, von der er 1639 als Oberprediger nach Stadthagen zurückkehrte.[18] Seine umfangreiche Bibliothek von 117 zumeist theologischen Bänden ging nach seinem Tod am 12. Juni 1648 an das Ratsgymnasium über. Sein Grabmal befand sich in St. Martini in Stadthagen.[19]

Unter den Peitmann’schen Bänden befindet sich mit der Signatur I 44 eine Ausgabe der Antiquitatum iudaicum libri des Flavius Josephus, ein Band, der 1524 in Köln von Eucharius Cervicornus und Gottfried Hittorp gedruckt worden war.[20] Bei dem heute sehr schlecht erhaltenen Einband von diesem Frühdruck handelt es sich um ein Pergamentkopert. Dieses Fragment wurde in einer frühen Textualis aus dem 13./14. Jahrhundert geschrieben.

Das Kopert wurde aus einem Doppelblatt gebildet, welches inhaltlich ebenfalls sehr interessant ist. In der Art eines Martyrologiums wurden rubrizierte römische Datumsangaben aufgeführt. In der Folge erscheinen aber nicht wie in einem Martyrologium üblich regestierte Heiligenerzählungen, sondern vollumfängliche Legenden. Am Ende einer Legende findet sich wiederum wie in einem Martyrologium weitere einzelne Sätze zu Heiligen, welche ebenfalls an diesem Tag gefeiert wurden.

Diese hier vorliegende, bislang unbekannte Mischform aus Martyrologium und Legendarium enthält Legenden bzw. Einträge zu den Monaten Januar und Februar. Das linke Doppelblatt beginnt im Januar mit einer nicht mehr zu lesenden Passio am 31. Januar. Auch die beiden mit Eodem die beginnenden Nachträge sind nicht mehr zu entziffern. Es folgt die Passio des hl. Ignatius am 1. Februar. Der Text folgt in wesentlichen Teilen der Passio, die in den Acta Sanctorum überliefert wird.[21]

Das rechte Doppelblatt setzt ein in der Vita s. Waldetrudis, allerdings nicht an ihrem Gedenktag, dem 9. April, sondern am 3. Februar, der Erhebung ihrer Gebeine in der von ihr gegründeten Benediktinerinnen-Abtei in Mons.[22] Der Text entspricht indessen nicht den beiden bekannten Versionen ihrer Vita.[23] Es handelt sich vielmehr um eine Überarbeitung der Vita auf der Grundlage von Philippus Harveng.[24] Am 4. Februar folgt die Vita des Phileas von Thmuis, die im Wesentlichen aus dem Text im Martyrologiums Adonis entnommen ist.[25] Nach der Vita folgt das Regest zu Papst Gelasius I., der ebenfalls am 4. Februar verehrt wird.

Abb. 1: Ende der Vita zur Erhebung der Gebeine der hl. Waldetrudis und Beginn der Vita des Phileas
(Bild: Löffler)

Die Frage nach einer möglichen Provenienz dieses Doppelblatts könnte aufgrund der ungewöhnlichen Aufführung der Erhebung der Gebeine von Waldetrudis im Lauf des Kirchenjahres nach Mons weisen, aber diese Angabe muss angesichts der Überlieferungssituation vage bleiben.

Der hintere Buchdeckel war auf seiner Innenseite ursprünglich vollständig mit einem Papierblatt beklebt, welches inzwischen teilweise abgelöst ist. Bei dem dort sichtbaren Text handelt es sich um einen Auszug aus der Postilla super totam bibliam des Nicolaus de Lyra cum expositionibus Guillelmi Britonis et additionibus Pauli Burgensis et correctoriis editis a Matthia Doering, konkret aus dem 6. und 7. Kapitel der Epistola Pauli ad Hebraeos. Das Fragment konnte dem Nürnberger Druck Anton Kobergers aus dem Jahr 1481 zugewiesen werden.[26] Ob es sich um einen Fehl- oder Korrekturdruck handelt oder ob das Blatt einem gebundenen Codex entstammt, lässt sich aufgrund des sehr fragmentarischen Erhaltungszustands nicht mehr feststellen.

Abb. 2: Die nur in Teilen sichtbare Postilla super totam bibliam des Nicolaus de Lyra
(Bild: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5)

Diese Bibelauslegung des Nicolaus de Lyra war zu Zeiten seines Drucks ein Bestseller. Über 150 Textzeugen des Drucks sind heute bekannt. Wo und wann Ludolph Peithmann den Band der Antiquitatum iudaicum des Flavius Josephus erworben hatte oder ob er ihn geschenkt bekommen hatte, entzieht sich unserer Kenntnis. Auf dem Titelblatt wurde auf dem unteren Rand lediglich vermerkt, dass der Band aus dem Vermächtnis Peithmanns stammte.


[1] Udo Jobst: Umschlossene Welt – geöffnete Bücher. Die Bibliotheken des Ratsgymnasiums Stadthagen im Zeitalter der Renaissance (1468-1648). Beschreibung und Analyse (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung. Inventare und kleinere Schriften des Staatsarchivs in Bückeburg 7), Bückeburg 2003.

[2] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 58-59.

[3] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 60-63.

[4] ISTC ik00008060, GW M16068, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Falk Eisermann: Verzeichnis der typographischen Einblattdrucke des 15. Jahrhunderts im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation [VE 15), Bd. II: Katalog J-Z, Wiesbaden 2004, Nr. K-8, S. 39-40.

[5] ISTC ia00383000, GW 871, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Die Signatur des Trägerbandes [Thomas de Aquino: Summa theologia; Basel, Michael Wensler, 1485; istc it00194000, GW M46436, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023] lautet: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5, W 18. Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 60.

[6] ISTC ib00766100, GW 0450610N, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Die Signatur des Trägerbandes [Augustinus: Explanatio psalmorum; Basel, Johann Amerbach, 1489; istc ia01272000, GW 2909, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023] lautet: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5, W 2. Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 61, noch mit der inzwischen überholten Datierung „um 1486“.

[7] ISTC ij00516000, GW 7594, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Die Signatur des Trägerbandes [Johannes Gerson: Opera; Basel, Nicolaus Kessler, 1489; istc ig00187000, GW 10715, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023] lautet: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5, W 9. Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 62.

[8] ISTC ir00007000, GW M36936, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Die Signatur des Trägerbandes lautet: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5, W 18 (wie Anm. 5). Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 63.

[9] ISTC ib01162210, GW 5348, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Die Signatur des Trägerbandes lautet: Niedersächsisches Staatsarchiv Bückeburg, Dep. 5, W 9, Bd. 2 (wie Anm. 7). Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 33 und 58.

[10] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 62. ISTC im00669500, GW M24484, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023.

[11] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 63. Jobst bezeichnet es als 5cm schmales Lesezeichen, welches in einem Wiegedruck gefunden wurde.

[12] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 11-12 und 17-19. Ders., Das Franziskanerkloster in Stadthagen zwischen Spätmittelalter und Renaissance (1486-1559) (Schaumburger Beiträge 2), Bielefeld 2014, bes. S. 43-52, 78 und 96. Dieter Brosius: Stadthagen, Franziskaner, in: Niedersächsisches Klosterbuch. Verzeichnis der Klöster, Stifte, Kommenden und Beginenhäuser in Niedersachsen und Bremen von den Anfängen bis 1810, hg. von Josef Doelle / Dennis Knochenhauer, Bd. 3, Bielefeld 2012, S. 1384-1387, hier S. 1386.

[13] Grundlegend zur Bibliothek des Ratsgymnasiums vgl. Otto Bernstorf: Die alte Bibliothek der Lateinschule, in: Das alte Stadthagen und seine höhere Schule, hg. von Otto Bernstorf (Mitteilungen des Vereins für schaumburg-lippische Geschichte, Altertümer und Landeskunde 7), Bückeburg 1939, S. 179-238.

[14] Joseph Prinz, Die Stadthagener Lateinschule bis zum Jahre 1571, in: Bernstorf (wie Anm. 13), S. 49-77, hier S. 61. Martin Röhling, Stadthagens Lateinschule, Gymnasium und Universität, in: Bernstorf (wie Anm. 13), S. 79-148, hier S. 106. Bernstorf (wie Anm. 13), S. 181-183 und 195-204. Wilhelm Meier-Peithmann: Kulturgeschichte einer deutschen Familie, Stadthagen 2011, S. 57-89.

[15] Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 21.

[16] Die Matrikel der Universität Rostock, hg. von Adolf Hofmeister, Bd. 3: 1611-1694, Rostock 1895, S. 51: […] in facultatem recepit […] M. Ludolphum Peitmannum Stadhaga-Schaunburgensem Giessae promotum.

[17] Matrikel 3 (wie Anm. 16), S. 52.

[18] Eberhard David Hauber: Primitiae Schauenburgicae, Bd. 2, Wolfenbüttel 1728, S. 203-208. Jobst, Bibliotheken (wie Anm. 1), S. 21-22.

[19] Die Inschriften des Landkreises Schaumburg. Bearb. v. Katharina Kagerer unter Benutzung der Vorarbeiten v. Inga Finck (Deutsche Inschriften 104, Wiesbaden 2018) 873-775 Nr. 636, online.

[20] VD16 ZV 8756 (zuletzt besucht 29.10.2023).

[21] Acta Sanctorum, Febr. I, Antwerpen 1658, Sp. 29-33. Biblioteca Hagiographica Latina antiquae et mediae aetatis (BHL), Bd. 1, Brüssel 1898, Nr. 4256, S. 631.

[22] Francois De Vriendt, La tradition manuscrite de la Vita Waldetrudis (BHL 8776–8777). Les mécanismes de propagation d’un récit hagiographique régional (IXe-XVe siècles), in: Analecta Bollandiana 117 (1999), S. 319–368.

[23] Biblioteca Hagiographica Latina antiquae et mediae aetatis (BHL), Bd. 2, Brüssel 1898, Nr. 8776 und 8777, S. 1267.

[24] Philippus de Harveng, Vita S. Waldetrudis, in: Patrologia latina cursus completus (…), ed. Jacques-Paul Migne, Bd. 203, Paris 1844, hier Sp. 1375-1386.

[25] Sancti Adonis Martyrologium, in: Patrologia latina cursus completus (…), ed. Jacques-Paul Migne, Bd. 123, Paris 1844, hier Sp. 225D-226D. BHL (wie Anm. 23), Nr. 6799, S. 988-989.

[26] Istc in00135000, GW M26513, beide zuletzt abgerufen 27.10.2023. Verglichen mit UuSB Köln, GBIV3309, f. 217r.

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Eine kurze Aktualisierung zu Aggsbach / Göttweig, und Admont (Beobachtungen aus Auktionskatalogen III)

Vor bald einem Jahr wurde vom Antiquariat Reiss & Sohn in Königstein im Taunus ein Teil des ehemaligen Cod. 496 der Stiftsbibliothek Admont versteigert. In einem Beitrag im Iter Austriacum wurde damals darauf hingewiesen, daß der Codex in der angebotenen Form unvollständig ist. Der Käufer der Handschrift war unbekannt. Soeben erhielt ich nun von Karin Schamberger, Bibliothekarin der Stiftsbibliothek Admont, der ich für die Mitteilung sehr danke, die Nachricht, daß der Codex nach einer kurzen Zwischenstation beim Antiquar Jonathan A. Hill in New York von der Osler Library of the History of Medicine der McGill-University in Montreal erworben wurde und bereits in digitalisierter Form zugänglich ist.

Die Handschrift war nach ihrem Verkauf 1934 an das Züricher Antiquariat L’Art ancien zerteilt worden. Der jetzt in Montreal befindliche Teil war dann in deutschem Privatbesitz. Der zweite Teil fehlt weiterhin, es besteht aber begründete Hoffnung, daß auch er bald lokalisiert werden kann.

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Handschriftentransfer im Hochmittelalter: eine Heiligenkreuzer Handschrift in Vorau

Mit der immer weiter fortschreitenden Erfassung zisterziensischer Scriptorien durch Alois Haidinger auf www.scriptoria.at wird der Forschung ein wichtiges Werkzeug zur Untersuchung der klösterlichen Netzwerke im Hochmittelalter zur Verfügung gestellt. Neben ausführlichen Schreiberauswertungen mit reichem Bildmaterial bietet die Website nach dem letzten Update nun auch Analysen der Ausstattung der Bände. Für ein breiteres Forschungspublikum relevant sind die bisher an keiner anderen Stelle publizierten ausführlichen Handschriftenbeschreibungen sowie die über 100 Volldigitalisate von Handschriften der Stiftsbibliothek Heiligenkreuz: auf www.manusripta.at scheinen lediglich 20 ältere Digitalisate mit vorwiegend germanistischem Bezug auf. Die Inhalte auf www.scriptoria.at werden ergänzt durch Digitalisate Heiligenkreuzer Handschriften in der Österreichischen Nationalbibliothek sowie zahlreiche Digitalisate aus der Stiftsbibliothek Rein (ein Digitalisat auf www.manuscripta.at). Dank dieses reichen Quellenmaterials kann nun auch ein hochmittelalterlicher Handschriftentransfer aus Heiligenkreuz in das steirische Chorherrenstift Vorau nachgewiesen werden.

Vorau Cod. 170 wird im Handschriftenkatalog von Pius Fank als Collectaneum auctoritatum bezeichnet und in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert. Der 68 Blatt umfassende Band ist offensichtlich unvollständig: die erste Kustode auf fol. 8v lautet XII, die letzte XX. Der Einband des Codex mit senkrecht beschnittenen dicken Holzbrettern und einem flachen Rücken ist allerdings romanisch, sodass es sich um einen sehr frühen (den ursprünglichen?) Bindungszustand handelt. Der Rücken zeigt Spuren einer wohl ebenfalls romanischen Beschriftung.

Abbildung 1: Vorau Cod. 170 Einband

Ein Vermerk am Vorderdeckelspiegel weist die Handschrift eindeutig als hochmittelalterlichen Vorauer Besitz aus: hunc librum a Bernhardo preposito, sancte marie, sanctoque Thome et uorovvensi ecclesie collatum qui abstulerit anathema sit. Darüber findet sich ein Lagenvermerk viii q. et dim., der die heutige Lagenstruktur der Handschrift beschreibt. Beide Einträge sind typisch für die hochmittelalterlichen Bibliotheken von Vorau und Seckau und zeugen von Propst Bernhard, der beiden Klöstern vorstand und in Urkunden und Handschriften nachzuweisen ist[1]. Die Einträge in Cod. 170 weisen eine deutlich schwungvollere Schrift auf als dies bei vielen ähnlichen Besitzvermerken Bernhards üblich ist und sind vergleichbar mit dem Eintrag in Vorau Cod. 195.  Weiter oben am Blatt befand sich einst wohl ein ähnlicher, heute jedoch fast vollständig radierter Vermerk, der ein Vertreter des etwas gesetzteren Schrifttyps ist, wie er etwa in Vorau Cod. 276 oder auch in Seckauer Handschriften auftritt. Sichtbar sind noch das Ende der Lagenformel et dim. und darunter que sowie einige Buchstabenreste (siehe dazu weiter unten).

Abbildung 2: Vorau Cod. 170, VDS: Besitz- und Lagenvermerk Bernhards von Seckau/Vorau

Trotz dieser frühen Besitzvermerke ist die Handschrift mit sehr hoher Wahrscheinlich nicht in Vorau oder für Vorau entstanden, sondern im Zisterzienserstift Heiligenkreuz um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Der Hauptschreiber des Bandes ist jene Hand, die auch den Großteil der zweiten kodikologischen Einheit der Heiligenkreuzer Handschrift Wien, ÖNB, Cod. 830 schreibt und von Alois Haidinger in seiner Schreiberdatenbank www.scriptoria.at als Hand B bezeichnet wird. Kleinere Einschübe in der Handschrift stammen vom Heiligenkreuzer Schreiber HLK 122 A. Auf einen zisterziensischen Ursprung des Bandes deuten überdies die zahlreichen punctus flexus hin.

Abbildung 3: Vorau Cod. 170, fol. 25r: Schriftproben

Es ist möglich, dass Vorau Cod. 170 bereits in der ersten erhaltenen Heiligenkreuzer Bücherliste aus der Mitte des 12. Jahrhunderts genannt wird[2]. Paläographisch spricht nichts gegen diese Zuordnung, da sich beide Schreiber in Handschriften der Bücherliste nachweisen lassen[3]. Zwei, allerdings wenig konkrete, Einträge könnten mit der Handschrift in Verbindung stehen. Bisher nicht zuordenbar war Item excerpta in duobus paribus libellis. Wenn Vorau Cod. 170, der mit Kustode XII beginnt, seit seinem Transfer aus Heiligenkreuz kodikologisch nicht verändert wurde, könnte es sich um den zweiten Teil der in der Bücherliste genannten Exzpertsammlung handeln. Ob man den Band mit 68 Blatt und festem Einband aber als libellus bezeichnen würde, ist schwer zu beurteilen. Die übliche Bezeichnung in der Liste ist volumen, einzige eine weitere, allerdings verlorene Handschrift mit mehreren Texten wird ebenfalls als libellus bezeichnet. Akzeptiert man die Identifikation und nimmt einen direkten, unveränderten Transfer nach Vorau an, bietet dies eine interessante Perspektive für die Geschichte der Heiligenkreuzer Einbände. Bei zwei Heiligenkreuzer Bänden (Cod. 79 und 111) sprechen die sehr dicken, am Bund nicht abgeschrägten Holzbretter für eine Entstehung im 12. Jahrhundert, auch wenn die Stempel einer Gruppe des 15. Jahrhunderts zugeschrieben werden[4]. Hier böte sich nun die Vorauer Handschrift als Vergleichsobjekt für die Einbandtechnik an.

Die Bücherliste bietet aber noch eine weitere Identifikationsmöglichkeit. Der Eintrag Item sentencie diversorum in unum collecte wird von Alois Haidinger und Franz Lackner in ihrem Band zur frühen Heiligenkreuzer Bibliothek vorsichtig und ohne Überzeugung als „Cod. 153 (?)“[5] identifiziert. Deutlich besser als auf diese Handschrift, die mit einer ausführlichen Expositio in apocalypsin beginnt, passt die inhaltliche Beschreibung jedoch auf Vorau Cod. 170, der ausschließlich aus kurzen Exzerpten besteht. In der Bücherliste wird jedoch eindeutig von einem Band gesprochen, während in Vorau nur der zweite Teil einer umfangreicheren Handschrift überliefert ist. Hier müsste man also annehmen, dass die Handschrift zu einem (wenig) späteren Zeitpunkt geteilt und umgebunden wurde. Völlig unwahrscheinlich ist dies in Hinblick auf die Benutzbarkeit nicht. Nimmt man die für diese Zeit in Heiligenkreuz typischen Lagen von vier Doppelblättern an, fehlen aus dem ersten Teil 88 Blätter und der Band hatte in Summe 156 Blätter – für die relativ geringe Größe der Handschrift ein sehr großer Umfang. Gleichzeitig macht dies aber auch wahrscheinlicher, dass die Handschrift schon ursprünglich in zwei Bände geteilt war und damit eher mit den vorher genannten pares libelli identifiziert werden kann.

Wie und warum gelangte die Handschrift aber nach Vorau? Durch den Besitzvermerk ist ein ungefährer terminus ante quem mit dem letzten Nachweis Bernhards 1202 gegeben. Von Bernhard sei, so der Besitzvermerk, der Codex der Vorauer Kirche collatus und damit übertragen worden. Es findet sich also kein Hinweis darauf, dass sie im Auftrag Bernhards kopiert wurde, wie man es in anderen Handschriften antrifft (z.B. Vorau Cod. 276 que Wolcangus scripsit iubente Bernhardo preposito…). Der Vorauer Propst muss daher Kontakte zu Heiligenkreuz gehabt haben, die ihm den Erwerb ermöglichten.

Tatsächlich finden sich noch an anderen Stellen Hinweise auf solche Beziehungen. Heiligenkreuz Cod. 91, ein sicher im frühen Scriptorium des Stifts entstandener Band[6], trägt einen typisch Bernhardinischen Lagenvermerk auf fol. 195v. In der Bibliothek von Seckau befanden sich bereits zu Bernhards Zeit als Propst zwei Bände einer Bibel, die vom Schreiber HLK 98 A kopiert wurden[7], der in Heiligenkreuz und Zwettl arbeitete (Graz UB, Cod. 65 (mit Lagenvermerk) und Cod. 68). Ob die von Salzburger Malern ausgestatteten Handschriften[8] für Seckau oder in Seckau angefertigt wurden oder aus einer der zisterziensischen Bibliotheken stammten, lässt sich nicht feststellen.

Ein Kontakt von Bernhard nach Heiligenkreuz und ein anschließender Handschriftentransfer könnte auch den bereits erwähnten radierten Besitzvermerk erklären. Er stammt offensichtlich von Bernhards Hand. Wenn es ein Vorauer Besitzvermerk gewesen wäre, wäre eine Rasur wohl nicht nötig gewesen. Eine Möglichkeit wäre ein Aufenthalt zunächst in Seckau, wo Bernhard ebenfalls Propst war, und danach erst in Vorau. Aus dem eben erwähnten Lagenvermerk in einer Heiligenkreuzer Handschrift eröffnet sich allerdings noch eine weitere Perspektive: ein Besitzvermerk von Bernhards Hand für ein anderes Kloster. Tatsächlich sind solche Bernhardinischen Besitz- und Lagenvermerke aus mehreren Klöstern bekannt[9]:

  • Lambach (OSB): ÖNB Cod. Ser. n. 3605[10] (partiell radierter Besitzvermerk und Lagenvermerk)
  • St. Lambrecht (OSB): Graz, Universitätsbibliothek, Cod. 297 (Besitzvermerk für St. Lambrecht), Cod. 454[11] (Inhaltsangabe, abweichende Schrift!) und Cod. 1046 (Besitzvermerk für St. Lambrecht)
  • Admont (OSB): Admonst, Stiftsbibliothek, Cod. 529 (Lagenvermerk und Besitzvermerk für Admont in urkundenähnlicher Schrift)[12]
  • Rein (OCist): Rein, Stiftsbibliothek, Cod. 20 (Besitzvermerk für Rein) und Cod. 59 (Besitzvermerk für Rein)[13], Warschau, Biblioteka Narodowa, Ms 8014 II (Lagenvermerk[14] und radierter Besitzvermerk?)

Wie für  Heiligenkreuz Cod. 91 ist auch die Entstehung von Rein Cod. 59 im besitzenden Kloster gesichert und bei Rein Cod. 20 durch die Schriftstilisierung zumindest sehr wahrscheinlich[15]. Ebenso ist die heute in der ÖNB aufbewahrte Lambacher Handschrift vermutlich im Stift selbst entstanden[16]. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der in Vorau Cod. 170 radierte Besitzvermerk einen Hinweis auf Heiligenkreuz enthielt. Wie man sich allerdings die Eintragung der Vermerke vorzustellen hat, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise entlieh Bernhard die Handschriften, um sie für Seckau oder Vorau kopieren zu lassen[17], was sich allerdings bisher nicht auf philologischer Ebene nachweisen ließ. Möglich wäre auch ein Aufenthalt Bernhards in den genannten Bibliotheken.

Für den Moment muss zwar vieles zu Bernhards Tätigkeit als Bibliothekar und Bucherwerber offen bleiben, eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Bernhard konnte sich eines breiten Netzwerks bedienen, das Ordens- und Landesgrenzen überwand und ihm die Erwerbung von Vorau Cod. 170 möglich machte.


[1] Zu Bernhard ausführlich Pius Fank, Die Vorauer Handschrift. Ihre Entstehung und ihr Schreiber. Mit 75 Schriftproben auf 16 Tafeln (Graz 1967), besonders 21-46 und zuletzt Hans Zotter, Scripta manent: das romanische Skriptorium des Augustiner-Chorherrenstiftes Seckau in der Steiermark (Graz 2020) 294-297 und 69-71; kritisch zu einigen Urkundenzuweisungen Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum dritten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs (1156–1182). In: Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 17 (2016) 28–75, hier 70-74 und Roman Zehetmayer, Auf dem Weg zur Fürstenkanzlei. Das Beispiel der Herzogtümer Österreich und Steiermark. In: Archiv für Diplomatik 64 (2018) 177–216, hier 196f;

[2] Theodor Gottlieb, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs I: Niederösterreich (Wien 1915, Nachdruck Aalen 1974) 19-21.

[3] Siehe zu den Schreibern der Bücherliste Alois Haidinger – Franz Lackner, Die Bibliothek und das Skriptorium des Stiftes Heiligenkreuz unter Abt Gottschalk (1134/1147) (Codices Manuscripti et Impressi, Supplementum 11, Purkersdorf 2015) sowie die Datenbank www.scriptoria.at

[4] Diskussion bei der Beschreibung von Cod. 19 von Franz Lackner, Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 90.

[5] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 16

[6] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33. Paläographische Beschreibung von Alois Haidinger: https://www.scriptoria.at/cgi-bin/scribes.php?ms=AT3500-91

[7] Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33.

[8] Ebd.

[9] Wo nicht explizit genannt bereits in Fank, Vorauer Handschrift (wie Anm. 1).

[10] Zu dieser Handschrift siehe zukünftig ausführlich den im Druck befindlichen Aufsatz Katharina Kaska – Christoph Egger, Und immer wieder Lambach – Überlegungen zur Überlieferung der Werke des Honorius im österreichischen Raum (Vortrag bei der Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Theologische Mediävistik (IGTM)
17./18. Juni 2022).

[11] Maria Mairold, Ein Urkundenschreiber hinterläßt in steirischen Klosterbibliotheken seine Spuren. In: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchivs 48 (1998) 413–416 (Digitalisat), hier 414.

[12] Mairold, Urkundenschreiber (wie Anm. 11) 414 mit Abbildung.

[13] Beide ebd.

[14] Darunter stark radiert, sodass ein etwaiger Besitzvermerk verloren ist. Die Handschrift beschrieben in Herad Spilling, Lateinische Pergamenthandschriften österreichischer Provenienz in der der polnischen Nationalbibliothek (Sitzungsberichte. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 846, Wien 2014) 360-2, wo der Lagenvermerk erwähnt, aber nicht eingeordnet wird.

[15] Siehe auf www.scriptoria.at unter den jeweiligen Signaturen: Cod. 20 und Cod. 59.

[16] Lisa Fagin Davis, The Gottschalk Antiphonary: Liturgy and Music in Twelfth-Century Lambach (Cambridge studies in palaeography and codicology 8) (Cambridge 2000) 32 schreibt die Handschrift der Lambacher Hand B zu. In Einzelformen stimmt die Schrift überein, der Duktus und die häufige Verwendung des tironischen et unterscheidet Cod. Ser. n. 3603 jedoch von den anderen Werken des Schreibers.

[17] Diese Vermutung für Cod. 91 geäußert in Haidinger – Lackner, Heiligenkreuz (wie Anm. 3) 33 mit Anm. 125.

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Augustinus von Weilheim und die Wiener Gesera

Die Principia – Einführungsvorlesungenlektüren, bzw. Debatten – an der Theologischen Fakultät der Universität Wien bleiben uns als wahrhaftige Ego-Monumente des Mittelalters. Der Theologe, der mit dieser Textgattung bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zu unterrichten anfing, spielte darin mit seinem Namen, den er oft in ein Bibelzitat – dieses oft auch ein Leitmotif seiner weiteren Schriften – integrierte; machte Anspielungen auf seine Heimat oder die Stadt Wien; datierte es präzis; schrieb und sogar dekorierte eigenhändig den Text.[1] Im scharfen Gegensatz zu den Kommentaren über Petrus Lombardus´ Sentenzen in vier Büchern besitzen die Principia eine anspruchsvolle, gleichsam gotische Struktur bestehend aus: (1) sermo (recommendatoria),2) quaestio bestehend aus articulus positivus, der propositiones, conclusiones und Korollarien enthält; articulus collativus oder articuli collativi, in denen man mit den socii streitet; 3) actio gratiarum;4) und die protestatio(nes), die die Übereinstimmung der eigenen Thesen mit der katholischen Doktrin behaupten und in den Statuten verlangt sind[2]. Da es um Debatten geht, werden darin systematisch die gleichzeitig Lehrenden genannt und ihre Thesen zitiert[3]. Die Principia widerspiegeln die Vielfalt der doktrinalen Fragestellungen. Man streitet in ihnen, um nur einige Beispiele zu nennen, um die akzidentelle Freiheit der Engel, das Buch des Lebens, das Erfahrungswissen Christi, Embryonen, materia prima, und die Latitudo der Taufgnade. Principia zitieren neben traditionellen Autoritäten des lateinischen Christentums den griechischen Philosoph Aristoteles und seine verschiedenen Werke[4]. In diesem Beitrag möchte ich auf einen weiteren Aspekt der Principia hinweisen, nämlich auf die darin überlieferten historisierenden Angaben. Diese hängen mit dem stark autobiographischen Aspekt der Gattung und einer Aufmerksamkeit, die Ereignissen an der Theologischen Fakultät gewidmet ist, zusammen. Die Jahrzehnte, die in die Principia besonders einfließen, waren eine hektische und dunkle Zeit der Geschichte.

Dietrich oder Theoderich Rudolfi von Hammelburg liefert dafür ein erstes Beispiel. Hammelburg hat über Petrus Lombardus´ Sentenzen im Biennium 1411-1412 gelesen. Die dazugehörigen Principia hat er mit genauer Datierung und historischen Details versehen. In ÖNB, cod. 4593, fol. 112v erwähnt er zum Ende seines zweiten Principium, dass im Jahr 1412 Johannes Berwart von Villingen gestorben sei (durch „malignibus“ – Villingen wurde ermordet). Hammelburg gibt das genaue Datum der Ermordung nicht an, das auch sonst unbekannt ist. Er erwähnt es wahrscheinlich, weil er Villingen auf der Reise nach Rom, nach der dieser auf dem Rückweg starb, begleitet hatte. Im nächsten Principium unterscheidet er das Datum der Abfassung des Textes vom Datum des Vortrags: „Anno domini m.cccc.12 in die sancti Mauri scriptus. In scolis vero factum est hoc principium anno eodem die sancti Gotthardi cum magister meus R(everendus) Lampertus esset in Ungeria.“ Dass Lambert von Geldern 1412 von der Universität Wien abwesend war, bestätigen die Fakultätsakten, wobei dort der Aufenthaltsort nicht angegeben wird[5]. Nur Dietrichs Explicit entnehmen wir, dass sich Lambert von Geldern im Jahr 1412 in Ungarn aufgehalten hat, nachdem er im Jahr 1411 von Kaiser Sigismund zum Probst von Ofen ernannt worden war[6].

Ein zweites Beispiel liefern die Principia von Augustinus von Weilheim. Augustinus Ayrimsmalz von Weilheim, Bruder des Abtes Konrad Ayrimsmalcz von Tegernsee, las 1448-1449 über die Sentenzen an der Wiener Theologischen Fakultät vor. Seine Principia sind in München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 18700, fol. 197r-235v überliefert, wohin sie aus dem Besitz der Bibliothek der Tegernseer Benediktinerabtei gelangten[7].

München, BSB, Clm 18700, Vorderdeckel mit Titel – und Signaturschild

In Lambach, Benediktinerstift, Cod. 220, 21v-33r sind die parallelen Thesen von Johannes von Lambach OSB zu den Principia von Weilheim zu finden: Johannes von Lambach OSB debattiert dort mit ihm, während die Gegenthesen von Weilheim in Clm 18700, fol. 225r-230v stehen. Im Vergleich zu Dietrich von Hammelburg hat Augustinus von Weilheim seine Principia mit übergenauer Datierung versehen: die Explicit erwähnen nicht nur das doppelte Datum des Vortrags und der Abschrift, sondern schließen manchmal sogar die Stunde der Fertigstellung eines Principium mit ein. Außerdem scheint Weilheim ein Interesse für historische Details zu pflegen. So erwähnt er auf fol. 217v, dass im Jahr 1448 sich der Tegernseer Abt in Wien aufenthielt. Für das Jahr 1449 führt er auf, dass das „Haus Österreich“ von König Friedrich (wohl dem III.) geführt war. Hier fügt er ein weiteres Detail hinzu:

Explicit des 2. Principium zum 3. Buch der Sentenzen
 
„Im Jahr 1425 des Herren, am Tag des Heiligen Gregorius, wurden die Juden in Wien verbrannt (wortwörtlich: eingeäschert), die nicht zum Glauben konvertieren wollten.“

Weilheim[8] datiert hier den letzten, grausamsten Akt der Judenverfolgung, die in den Jahren 1420-1421 in Wien stattgefunden hatte, und an der sich auch die Theologische Fakultät der Universität Wien beteiligt hatte. Doch während seine zeitgenössischen Bemerkungen genau sind, ist seine Vergangenheit verstellt. Weilheim hat den Tag der Gesera – das Fest des Papstes Gregorius fiel auf den 12. März – richtig aufgezeichnet, aber das Jahr falsch geschrieben: 1425 anstatt von 1421. Es mag sein, dass er sich das Datum nicht richtig gemerkt hat, wahrscheinlicher ist aber, dass er aus einer Vorlage falsch kopiert; „1“ kann nämlich leicht mit „5“ verwechselt werden. Beides würde aber heißen, dass 28 Jahre später das historische Ereignis der Judenverfolgung in Österreich nicht mehr genau wahrgenommen wurde. Weilheim, der in seinen Principia das Hauptgewicht auf die Idee der Inkarnation legte, nimmt es als Bestätigung seiner theologischen Inhalte auf. Was wiederum heißt, dass 28 Jahre später die Gesera noch immer als Rechtfertigung dienen konnte, ohne bedauert zu werden.

Augustinus von Weilheims Wortwahl der Einäscherung ist erschütternd. Aus der Ferne des Jahres 1449 erinnert es uns daran, dass wir nicht aufhören dürfen, uns zu erinnern[9].


[1] Siehe William J. Courtenay, From Dinkelsbühlʼs Questiones Communes to the Vienna Group Commentary. The Vienna ‘Schoolʼ, 1415–1425, in M. Brînzei (Hrsg.), Nicholas of Dinkelsbühl and the Sentences at Vienna in the Early Fifteenth Century (Turnhout 2015), S. 287–291, und meinen früheren Beitrag „Sentences Commentaries from the Early University of Vienna under the Palaeographical Magnifying Glass“ (25.2.2016). Für die scherzhafte Integrierung des Egos in Principia, siehe Ueli Zahnds online-Repertorium: https://puns.zahnd.be/themata.php (23.1.2023). Siehe auch die Datenbank DEBATE, die Daten, Namen, Thesen, usw. zu principia sammelt: https://database.debate-erc.com/jspui/ (9.2.2023)

[2] In Wien, ÖNB, cod. 4713, 64v bemerkt Peter von Pulkau, dass Johannes Berwart von Villingen alleine in einem Teil seiner Principia 10 conclusiones aufgestellt hat. Weiters gibt es subarticulus, propositio annexa, sowie corollarium responsivum.

[3] Für die Rekonstruktion der Thesen beider Teilnehmer in der Debatte anhand von einem einzigen Principium an der Universität Wien siehe beispielweise Edit A. Lukács, „Contuli cum magistro meo reverendo Nicholao de Dinckelspuhel in tribus principiis meis“. Die Principia des Walter von Bamberg OCarm aus 1400-1402, Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 29 (2018): 479-504.

[4] Von Aristoteles werden u. a. die Physik, Über den Himmel, Politik, Topik, die Nikomachische Ethik, die Metaphysik zitiert; beinahe alle Werke, mit der bemerkenswerten Abwesenheit der logischen Traktate.

[5] Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, ed. P. Uiblein (Wien 1978), Bd. I, S. 20 (Eintragung für 1412 I). Hammelburg erwähnt noch eine Bezahlung im Explicit. Geldsachen waren tatsächlich bis in die nächsten Jahre diskutiert: Paul Uiblein, Die Universität Wien im Mittelalter. Beiträge und Forschungen (Wien 1999), S. 355, Anm. 22.

[6] Ulrike Denk, „Lambert Sluter von Geldern“, https://geschichte.univie.ac.at/de/personen/lambert-sluter-von-geldern-mag-art-prof-theol (26.1.2023).

[7] Paul Uiblein erwähnt die Handschrift München, BSB, Clm 18700 (online unter: https://mdz-nbn-resolving.de/details:bsb00140305) aufgrund von Virgil Redlich, Tegernsee und die deutsche Geistesgeschichte im 15. Jahrhundert (München 1931), S. 30, Anm. 113, bezüglich eines Konflikts, der Augustinus´ parallele Aktivität an der Artisten- und Theologischen Fakultät entsprang, nämlich: „Item magister Augustinus de Weilheim actu legens Sentencias disputavit questiones Priorum et fuit prohibitus per facultatem et quod ammodo nullus legencium in theologia simul legat aut disputet publice in artibus aliquem librum.“ Die Akten der Theologischen Fakultät Wien, Bd. I, S. 234; Bd. II, S. 515, Anm. 89. Redlich nennt Augustinus´ Principia „genau datierte Prüfungsfragen“ (Das Titelschild nennt „principia plura“. Eine andere Bezeichnung für Principia war die prolusio bzw. prolusiones; manche Principia wurden unter dieser Benennung in moderne Kataloge aufgenommen.) Zu Augustinus von Weilheim, siehe https://resource.database.rag-online.org/ngQG2j971Q079fmYkPJfa, 13.02.2023.

[8] „Principium hoc secundum in tertium sententiarum librum proferi Ego Augustinus de weilheim domino incarnato cooperante In vigilia Iohannis waptiste Anno domini 1449 Regente tunc Romanorum rege friderico de domo Austrie. Anno domini 1425 in die Sancti Gregorii fuerunt incinerati iudei in wienna [propter … …] nolentes ad fidem converti.” (Ich folge der Groß- und Kleinschreibung des Originals, die interessante Einzelheiten enthüllt, wie z.B. das Ego.) Weilheim hat über der Zeile noch ein Detail hinzugefügt, das nicht lesbar ist. Die Verbrennung hat in Wien auf der Gänseweide stattgefunden, wo gewöhnlich die Todesstrafen durch Verbrennung stattfanden. Für den neuesten Beitrag und eine neue These zu den politischen Motivationen der Wiener Gesera siehe Petr Elbel und Wolfram Ziegler, „Die österreichischen Juden als Opfer von religiösem Fanatismus – oder eines machtpolitischen Kalküls? Der Verlauf und die Hintergründe der Wiener Gesera (1420/21)“, in M. Theisen (Hrsg.), Gotteskrieger. Der Kampf um den rechten Glauben rund um Wien im 15. Jahrhundert (Klosterneuburg 2022), S. 71-78.

[9] Dieser Beitrag ist aus Forschungen für das ERC Projekt DEBATE Nr. 771589, PI: Monica Brînzei, entstanden. Inspiriert wurde es durch die Initiative „We Remember. Learn From The Past. Protect The Future“, der sich in Januar 2023 auch das österreichische Parlament angeschlossen hat.

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Zur Geschichte der Admonter Riesenbibel im 12. Jahrhundert

Die vollständige Onlinestellung der Admonter Riesenbibel in der Österreichischen Nationalbibliothek (zwei Bände als ÖNB Cod. Ser. n. 2701 und 2702)[1] soll zum Anlass genommen werden, auf bisher nicht beachtete Hinweise zu ihrer Geschichte aufmerksam zu machen.

Abbildung 1: Anbetung des goldenen Kalbs (ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 4)

Weite Teile der Biographie der bedeutenden Handschrift lassen sich gut belegen: Kunsthistorisch ist die Entstehung der reich ausgestatteten Bände in Salzburg um die Mitte des 12. Jahrhunderts anzunehmen[2]. Spätestens ab etwa 1200 wurde die Bibel in St. Peter zu Csatár in Westungarn (Bistum Veszprém) aufbewahrt. Darauf deuten eine Abschrift einer Urkunde des Klosters, Notizen zu Schenkungen (beides Cod. Ser. n. 2701 fol. 52r [54r]), sowie ein Reliquienverzeichnis (ebd. fol. 3r) hin. Etwas später kam die Handschrift als Pfand nach St. Adrain in Zala (ebd. fol. 3r)[3]. Durch Besitzvermerke lässt sie sich schließlich im 15. Jahrhundert im steirischen Kloster Admont nachweisen, von dem sie aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Stifts 1937 an die Nationalbibliothek verkauft wurde[4].

Noch nicht endgültig geklärt ist die Geschichte der Bibel zwischen ihrer Anfertigung und dem Transfer nach Ungarn. László Mezey untersuchte 1981 Hymnen, die im zweiten Band auf fol. 3r7r, 10rv, 11r, 12r am Seitenrand nachgetragen wurden[5]. Inhaltlich lassen sich die Hymnen dem zisterziensischen Gebrauch zuordnen, womit Mezey annahm, dass die Riesenbibel vor ihrer Verbringung nach Ungarn eine Zwischenstation in einem Zisterzienserkloster gemacht haben müsse[6]. Bei der Suche nach dem konkreten Kloster zieht er Heiligenkreuz in Niederösterreich und Rein in der Steiermark als Möglichkeit in Betracht. Heiligenkreuz scheint ihm die Voraussetzung engerer Kontakte nach Ungarn besser als Rein zu erfüllen. Einerseits habe der Konvent aufgrund von zu geringer Dotation überlegt, einem Angebot Bélas II. folgend, nach Ungarn zu übersiedeln, andererseits gründete Heiligenkreuz 1142 die Abtei Cikádor in Ungarn (Bistum Pecs).

In jüngerer Zeit beschäftigte sich Robert Klugseder wieder mit den nachgetragenen Hymnen[7]. Er weist sie als vollständiges zisterziensisches Hymnar aus, ordnet nun allerdings die Notation Ungarn zu: Es handle sich um das früheste Beispiel der Graner-Notation. Dieselbe Notation verwenden die etwas später eingetragenen fragmentarischen Antiphonae per annum, die aber in benediktinischer Tradition stehen. Klugseder geht daher davon aus, dass beide Nachträge in Csatár entstanden sind, und zwar unter Verwendung einer Zisterzienserhandschrift als Vorlage für das Hymnar. Er hält die Notation für ein Zisterzienserkloster für unvorstellbar und schließt damit Heiligenkreuz als Zwischenstation der Handschrift auf ihrem Weg nach Ungarn „definitiv aus“[8].

Diesem so vehement geäußerten Schluss stehen nun zwei neue paläographische Beobachtungen entgegen: die nachträgliche Interpunktion, die die Handschrift zur Lesung vorbereitet, sowie der Hauptkorrektor im ersten Band.

An mehreren Stellen der Handschrift lässt sich der Punctus flexus nachweisen, wie er als Zeichen für eine kurze Pause im Vortrag von den Zisterziensern verwendet wird[9]. Im Haupttext und auch bei den im 12. Jahrhundert angebrachten Korrekturen auf Rasur[10] wurde die Interpunktion meist nachgetragen (z.B. erster Band fol. 48r). Auf dem vollständig vom Hauptkorrektor des ersten Bandes geschriebenen fol. 262 (265) ist das Zeichen zumindest teilweise vom Schreiber eingetragen[11]. Die Interpunktion weist also darauf hin, dass die Admonter Riesenbibel für die Lesung in einem Zisterzienserkloster überarbeitet wurde[12]. Diese Überarbeitung geschah nach der im Folgenden diskutierten Korrektur, lässt sich aber zeitlich bisher nicht eindeutig einordnen.

Abbildung 2: Einrichtung zur Lesung Cod. ser. n. 2701, fol. 165ra
Abbildung 3: Nachgetragener Punctus flexus auf Korrektur auf Rasur in ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 48ra

Auf die Zisterzienser deutet auch die Hand des Hauptkorrektors hin, die sich zweifelsfrei identifizieren lässt: Es handelt es sich um den im 1133 gegründeten Zisterzienserstift Heiligenkreuzer mehrfach nachweisbaren Schreiber HLK 122 A. Sehr charakteristisch für seine Hand ist die Form der et-Ligatur mit einer Schleife aus dem Kopf und einem Knick mit verdicktem Ende im Fuß. Ebenso stechen z.B. die Minuskel-x mit starkem Knick im nach links unten führenden Schaft hervor. Die Schriftstilisierung entspricht nicht dem bayerisch-österreichischen Raum, sondern weist auf das Mutterland des Ordens hin. Außer der namensgebenden Handschrift Heiligenkreuz Cod. 122 konnte dem Schreiber bisher nur ein Beitrag in Heiligenkreuz Cod. 289 zugewiesen werden. In beiden Handschriften wirkt er als Textschreiber und beide weisen weitere Schreiber mit französischer (burgundischer?) Schriftstilisierung auf[13].

Abbildung 4: Korrekturen von HLK 122 A in ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 55ra

Dass HLK 122 A tatsächlich in Heiligenkreuz tätig war, zeigt vor allem die älteste erhaltene Originalurkunde für Heiligenkreuz, die 1136 von Bischof Reginmar von Passau ausgestellt wurde und als Empfängerausfertigung von seiner Hand stammt[14]. Als weiterer Hinweis kann auch seine Verwendung des bajuwarischen z gelten (siehe Abbildung 5). In der Admonter Riesenbibel finden wir HLK 122 A nun als Korrektor einer jedenfalls in Österreich hergestellten Handschrift, womit er einerseits eine neue Rolle im Skriptorium übernimmt, andererseits noch einmal sicherer in Österreich lokalisiert werden kann.

Trotz dieser Schreiberidentifikation wird man sich hüten, die These von László Mezey sicher bestätigt zu sehen, dass die Admonter Riesenbibel in Heiligenkreuz aufbewahrt wurde. Wie jüngste Untersuchungen zeigen, ist im 12. Jahrhundert ein Schreiberaustausch zwischen Mutter- und Tochterkloster bei den österreichischen Zisterziensern häufiger nachweisbar[15], ebenso kommt es zum Austausch mit anderen Zisterzen und sogar mit Klöstern anderer Orden[16]. Während die Interpunktion gegen eine Korrektur außerhalb des Zisterzienserordens spricht, müssen andere Zisterzienserklöster, besonders aus der Filiation Heiligenkreuz, als Zwischenstationen der Handschrift zumindest in Betracht gezogen werden.

Neben dem Mutterkloster selbst sind dies auf österreichischem Boden die Zisterzen Zwettl (gegründet 1138) und Baumgartenberg (1141/2-1783), aus denen größere Buchbestände erhalten sind. Die sekundären Aufzeichnungen zum Buchbestand der drei Klöster helfen bei der Zuweisung nicht weiter. Die Bücherlisten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts aus Heiligenkreuz[17] und Zwettl[18] erwähnen keine Bibeln im Bibliotheksbestand, weil diese wie auch die liturgischen Bücher an anderer Stelle (in der Sakristei?) aufbewahrt wurden. Die Baumgartenberger Bücherliste aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts nennt Quatuor partes bibliothece[19] und damit offensichtlich nicht die heute zweibändige Riesenbibel. Zum Zeitpunkt der Erstellung der Bücherliste wäre die Riesenbibel jedoch ohnehin nicht mehr in der Baumgartenberger Bibliothek sondern bereits in Kloster Csátar gewesen. Tatsächlich hatte nicht nur, wie bereits angeführt, Heiligenkreuz Beziehungen zu Ungarn, sondern auch das oberösterreichische Tochterkloster. Friedrich, ein Begleiter Ottos von Freising und der erste Abt von Baumgartenberg, wurde Bischof in Hungaria [20]. Allerdings lässt sich der Schreiber HLK 122 A im Gegensatz zu zahlreichen anderen Heiligenkreuzer Schreibern bisher nicht in Baumgartenberg nachweisen, sodass es keinen konkreten, materiellen Anhaltspunkt für einen Aufenthalt der Bibel in Oberösterreich gibt.

Als wahrscheinlichste These bleibt daher trotz aller Vorsicht, dass die Admonter Riesenbibel zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Geschichte tatsächlich in Heiligenkreuz aufbewahrt wurde. Für zukünftige Forschungen, die diese These stärken oder schwächen können, gibt es mehrere Ansätze. Zunächst ist die paläographische Untersuchung der Handschriften und vor allem der zahlreichen Korrekturvorgänge noch unvollständig. Es lassen sich in Text, Korrekturen und Nachträgen mehrere Hände des 12. und 13. Jahrhunderts finden, die vielleicht noch genauer zugeordnet werden können. Auf inhaltlicher Ebene kann der dem Schreiber HLK 122 A und anderen Korrektoren zur Verfügung stehende Bibeltext mit den in den österreichischen Zisterzen vorhandenen Texten verglichen werden, um so eine nähere Einordnung zu treffen.

Abbildung 5 Marginalnote des 13. Jahrhunderts, die auf einen Vergleich des korrigierten Texts mit anderen Handschriften hinweist. (ÖNB Cod. ser. n. 2701, fol. 55rb)

Erst danach kann man sich zwei weiteren ungelösten Fragen zur Geschichte der Riesenbibel widmen: Wann und auf welchem Weg erhielt ein Zisterzienserkloster, mutmaßlich Heiligenkreuz, die Handschrift und wie gelangte sie danach nach Ungarn?

Keines der genannten Zisterzienserklöster besaß, soweit heute ersichtlich, in der Mitte des 12. Jahrhunderts Handschriften in ähnlich prachtvoller Ausstattung. Mezey vermutet, dass Erzbischof Konrad I. von Salzburg (gestorben 1147) die Bibel Leopold III. (gestorben 1136), dem Gründer von Heiligenkreuz, schenkte und dieser sie seiner Gründung übergab[21]. Sollte dies zutreffen, müsste die bisher in die Mitte des 12. Jahrhunderts datierte Handschrift in die frühen 1130er Jahre vordatiert werden. Immerhin lässt sich ein ähnliches Geschenk für Leopolds zweite Gründung, das Chorherrenstift Klosterneuburg, nachweisen. Laut einer Urkunde erwarb er bei den Chorherren von St. Nicola in Passau unter anderem eine dreibändige Bibel, die er Klosterneuburg übergab. Hier liegt jedoch auch eine engere persönliche Beziehung zwischen den beiden Stiften vor: Propst Hartmann von Klosterneuburg wurde aus St. Nicola berufen[22]. Nicht auszuschließen ist aber auch eine spätere Schenkung der Riesenbibel, für die potentielle historische Hintergründe jedoch erst untersucht werden müssen.

Aufgrund fehlender Quellen wahrscheinlich nicht mehr im Detail nachvollziehbar ist der Weg der Handschrift nach Ungarn. Möglich wäre ein Geschenk an König Bela II., wie es Mezey anführt[23], aber auch ein Weg über die Tochtergründung Cikádor, über deren Buchbestand jedoch nichts bekannt ist. In diesen Kontext fällt auch die Frage nach der Einordnung des nachgetragenen zisterziensischen Hymnars mit ungarischer, nicht-zisterziensischer Notation in die Geschichte der Handschrift.

Für den Moment müssen viele Fragen um die Frühgeschichte der Admonter Riesenbibel offen bleiben. Schon jetzt zeigt sich aber deutlich, wie wichtig eine interdisziplinäre Untersuchung dieser bedeutenden Handschrift ist und wie leicht Erkenntnisse aus einzelnen Fachbereichen zu übereilten Schlüssen führen können.


[1] Vier Blätter fehlen aus Band 1, von denen jene zwischen fol. 234/235 und fol. 243/244 in der École des Beaux Arts in Paris aufgefunden werden konnten: Hanns Swarzenski, Two unnoticed leaves from the Admont Bible. Scriptorium 10 (1956) 94-96.

[2] Zuletzt zum Buchmuck: Andreas Fingernagel, Die Admonter Riesenbibel: (Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 2701 und 2702) (Codices illuminati 1, Graz 2001). Wichtig auch zur Ausstattung und frühen Forschungsgeschichte Tünde Wehli, Die Admonter Bibel (Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungaricae XXIII, 3–4, 1977) 173 – 285; Handschriftenbeschreibung Otto Mazal – Franz Unterkircher, Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek: „Series nova“ (Neuerwerbungen): Teil 2: Cod. Ser. n. 1601-3200 (Museion N.F. 4, Bd. 2, T. 2, Wien 1963) 359-368.

[3] Zu den Urkunden siehe auch Paul Buberl, Die illuminierten Handschriften in der Steiermark I: Die Stiftsbibliotheken zu Admont und Vorau (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich 4,1 = Publikationen des K. K. Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Leipzig 1911) 20 und 22. Erstmals wurde die Beziehung in der ungarischen Forschung im 19. Jahrhundert hergestellt. Siehe zur Forschungsgeschichte László Mezey, Wie kam die Admonter Bibel nach Ungarn? Codices manuscripti 7 (1981) 48–51, hier 48.

[4] Siehe zum Verkauf zuletzt Katharina Kaska, Unabhängige Experten? Die Nationalbibliothek als Gutachter und Käufer von klösterlichem Buchbesitz, in: dass die Codices finanziell unproduktiv im Archiv des Stiftes liegen. Bücherverkäufe österreichischer Klöster in der Zwischenkriegszeit, hg. von Katharina Kaska und Christoph Egger (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 77, Wien 2022) 71–96, hier: 85 mit der dort angeführten Literatur.

[5] Mezey, Admonter Bibel (wie Anm. 3). Mezey datiert sie in die Mitte des Jahrhunderts, was zu früh scheint.

[6] Als Zeitspanne sieht er dabei die Zeit zwischen der Entstehung und die zweite Hälfte der 1140er Jahr, da er mit Wehli, Admonter Bibel 176 (wie Anm. 2) annimmt, dass die Bibel dem Kloster Csatár anlässlich der Kirchenweihe geschenkt worden war.

[7] Rober Klugseder, Die Notation des Hymnars der Admonter Riesenbibel. Codices manuscripti 73/74 (2010) 9–14.

[8] Zusammenfassend ebd. 13.

[9] Ebenso auch von Kartäusern, aber siehe Anm. 12. Zur Verwendung des Punctus flexus bei den Zisterziensern siehe z. B. Malcolm B. Parkes, Pause and effect: An introductioin to the history of punctuation in the west (Berkeley 1992) 38–40 mit Tafel 18 und 19; Nigel Palmer, Simul cantemus, simul pausemus. Zur mittelalterlichen Zisterzienserinterpunktion, in: Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften, hg. von Eckart C. Lutz – Martina Backes – Stephan Matter (Medienwandel, Medienwechsel, Medienwissen 11, Zürich 2010) 483–569.

[10] Fingernagel, Admonter Riesenbibel 13f. (wie Anm. 2) zu den Korrekturen

[11] Das Blatt wurde ebd. 53, passierend auf Mazal, Katalog (wie Anm. 2) 359, fälschlich ins 13. Jh. datiert.

[12] Die Kartause Seiz (Žiče) im heutigen Slowenien wurde 1165 gegründet, Aggsbach, Mauerbach und Gaming erst im 14. Jahrhundert. Eine Überarbeitung in einer Kartause ist daher kaum möglich.

[13] Zum Schreiber und seinem Werk: Alois Haidinger – Franz Lackner, Die Bibliothek und das Skriptorium des Stiftes Heiligenkreuz unter Abt Gottschalk (1134/1147) (Codices Manuscripti et Impressi, Supplementum 11, Purkersdorf 2015) 24 bzw. online auf www.scriptoria.at unter den genannten Handschriften.

[14] Zu ihm als Urkundenschreiber Katharina KASKA, Untersuchungen zum mittelalterlichen Buch. Und bibliothekswesen im Zisterzienserstift Heiligenkreuz (Masterarbeit, Universität Wien, 2014) 24. Zur Urkunde Roman Zehetmayer, Diplomatische Untersuchungen zum zweiten Band des Niederösterreichischen Urkundenbuchs. Mitteilungen aus dem Niederösterreichischen Landesarchiv 15 (2012) 59–115, hier 81. Urkunde abgedruckt in Roman Zehetmayer et. al., Niederösterreichisches Urkundenbuch II: 1076–1156 (Publikationen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 8/2, St. Pölten 2013) 710–712, Nr. 232. 

[15] Siehe den Austausch zwischen Baumgartenberg und Heiligenkreuz: Katharina KASKA, Schreiber und Werke. Ein Vergleich paläographischer und textlicher Beziehungen am Beispiel der österreichischen Zisterzienserklöster Heiligenkreuz und Baumgartenberg als methodischer Zugang zur Untersuchung monastischer Netzwerke, in: Die Bibliothek – The Library – La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen (Miscellanea Mediaevalia 41), hg. von Andreas Speer – Lars Reuke (Berlin–Boston 2020) 61–95.

[16] Siehe Beispiele auf www.scriptoria.at wie die Schreiber HLK 79 und HLK 98 A.

[17] Theodor Gottlieb, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs 1: Niederösterreich (Wien 1915, Nachdr. Aalen 1974) 18–20.

[18] Ebd. 510–516.

[19] Herbert Paulhart, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. V: Oberösterreich ( Wien 1971) 14–18, Eintrag auf 15 Z. 3

[20] … in cenobio Morimundensi ubi pernocatverat se monachum fecit, cum aliis quindecim qui secum venerant electissimis clericis. Qui etiam, ut ab uno illorum audivi, Friderico nomine, qui et ipse in abbatem Pomkartenperge et deinde in Hungaria in episcopum electus fuerat, omnes in diversas dignitates promoti sunt. (MGH SS 9 610, 30 – 611,2).

[21] Mezey, Admonter Bibel (wie Anm. 3) 50f.

[22] Gottlieb, MBKÖ 1 (wie Anm. 17) 83 zur frühen Geschichte der Klosterneuburger Bibliothek. Bereits 1330 war nur noch ein Band der ursprünglich dreibändigen Bibel vorhanden, der heute unvollständig ist (ebd. 89; Klosterneuburg, Stiftsbibliothek, Cod. 1).

[23] Mezey, Admonter Bibel (wie Anm. 3) 51.

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Aggsbach / Göttweig, und Admont (Beobachtungen aus Auktionskatalogen III)

Am 25. Oktober 2022 bietet das Auktionshaus Reiss & Sohn (Königstein im Taunus) im Rahmen seiner 211. Auktion gleich zwei Handschriften mit prominenter österreichischer Herkunft an. Los 1 ist eine Vollbibel des 13. Jahrhunderts, die aus dem Besitz der Kartause Aggsbach stammt.  Freilich ist die Handschrift um einiges älter als die 1380 gestiftete Kartause; einem in der Handschrift enthaltenen Vermerk zufolge, der im Katalog leider nur zitiert wird aber nicht abgebildet ist, ist der Codex emptus per dominum Johannem priorem a quodam sacerdote In Ytalia (f. 297v). Ob dieser Johannes mit dem zunächst Mauerbacher Mönch und dann ersten Aggsbacher Prior Johannes Fleischesser zu identifizieren ist oder ob es sich um einen späteren Prior (etwa Johannes Span de Ottlistetn, um 1424, erwähnt in Wien, ÖNB Cod. 1727 und Cod. 4633) dieses Namens handelt, läßt sich aufgrund der Katalogangaben nicht verifizieren. Eine eindeutige Identifikation des Codex mit einem Eintrag im Aggsbacher Bibliothekskatalog aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist nicht möglich. In Frage kämen die Bände C 7 / 1 und C 7 / 2, gleichlautend beschrieben als Item biblia integra cum exposicione terminorum biblie in fine[1] – falls die laut Auktionskatalog die Handschrift beschließenden Teile „der verbreitete Index nominum Hebraicorum sowie … ein alphabetisches Glossar an, anscheinend basierend auf dem Liber qui dicitur Angelus“ der im mittelalterlichen Katalog genannten Expositio terminorum biblie entsprechen. Natürlich ist auch die Möglichkeit zu bedenken, daß die Handschrift erst nach der Abfassung des Katalogs Teil der Aggsbacher Bibliothek geworden ist. Auf dem unteren Rand des zweiten Blattes der Handschrift findet sich ein von einer Hand des wohl frühen 18. Jahrhunderts geschriebener Eintrag: Inter theologos.

Analoge Einträge sind in einer Reihe von Aggsbacher Handschriften zu finden, die heute in der österreichischen Nationalbibliothek verwahrt werden: Inter theologos (Cod. 597, Cod. 1491); Inter Asceticos (Cod. 760, Cod. 4403); Inter Historicos (Cod. 1735, Cod. 5308); Inter Miscellaneos (Cod. 1663, Cod. 3178, Cod. 3473, Cod. 4067, Cod. 4761); Inter philosophos (Cod. 2357); Inter sermones (Cod. 4734). Vielleicht lassen diese Einträge bibliothekarische Ordnungsbemühungen in der Barockzeit erkennen. Freilich wäre es verfehlt, dazu die auf dem Rücken der Handschrift sichtbare Signatur „K 50“ in Beziehung zu setzen, deren Schrift sicher in die Neuzeit zu datieren ist, denn diese Signatur hat nichts mit Aggsbach zu tun sondern weist auf die Geschichte der Handschrift nach der Aufhebung der Kartause 1782 unter Joseph II. hin.

Die Bibliothek wurde durch die Aufhebung zerstreut, wobei eine größere Anzahl von Handschriften in die Wiener Hofbibliothek, heute Österreichische Nationalbibliothek gelangte; zahlreiche Drucke kamen in die Wiener Universitätsbibliothek. Weitere Handschriften und Bücher kamen in andere Bibliotheken – etwa Budapest, Országos Széchényi Könyvtár, Cod. 233 und Cod. 282; andere in private Hände – wie etwa jener Codex, der 2021 vom Wiener Antiquariat Inlibris angeboten wurde; die Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert enthält die dem Robert Kilwardby zugeschriebene Tabula zu Augustinus, De civitate Dei, und scheint inzwischen verkauft worden zu sein. Eine andere und besonders wichtige Aggsbacher Handschrift, nämlich der Bibliothekskatalog aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, gelangte 1913 „aus einer österreichischen Sammlung“ über das Auktionshaus C. G. Boerner in Leipzig in die Bibliothek Eduard Langer in Braunau in Böhmen und wurde 1934 von H. P. Kraus an die Österreichische Nationalbibliothek verkauft, wo sie heute als Cod. Ser. nov. 2583 aufgestellt ist.

Einige Handschriften gelangten in den Besitz von Stift Göttweig – und eine dieser Handschriften ist nun genau der Codex, der jetzt von Reiss & Sohn zur Versteigerung angeboten wird. Die Signatur „K 50“ findet ihre Entsprechung im Göttweiger Handschriftenkatalog des 18. Jahrhunderts (Cod. 962a (rot) / 878 (schwarz)), in dem der Codex auf f. 167v beschrieben ist. In der Göttweiger Bibliothek trug er später die Signatur Cod. 114 (rot) 61 (schwarz), im Katalog des P. Vinzenz Werl (1844) (Bd. 1 p. 192f.) erhielt er eine ausführliche Beschreibung.[2] Im Zuge einer Inventarisierung der Göttweiger Kunstgegenstände im Jänner 1939 am Vorabend der Aufhebung des Stiftes durch die Nazis wurde das Fehlen der Handschrift vermerkt, 1952 auch im Katalog von Vinzenz Werl eingetragen (p. 193). Vermutlich ist sie mit anderen Büchern der Göttweiger Bibliothek in der Zwischenkriegszeit verkauft worden.[3] „Seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts“, so der Auktionskatalog, „befindet sie sich in einer deutschen Privatsammlung.“

Los 4 der Auktion ist der ehemalige Cod. 496 der Stiftsbibliothek Admont. Es ist keineswegs unwichtig, auf die bequem online zugängliche Beschreibung dieser Handschrift im Katalog der Admonter Handschriften von Jakob Wichner (1888, p. 208f.) und auf die darauf aufbauende Behandlung des Codex in Andrea Rzihaceks Buch über die medizinischen Handschriften des Klosters Admont[4] hinzuweisen, da sich auf diese Weise eine durchaus nicht unbedeutende Unzulänglichkeit in der Katalogbeschreibung von Reiss & Sohn offenbart. Der Codex befindet sich in seinem mittelalterlichen Einband, der – wie manche Admonter Handschriften – auf dem mit Streicheisenlinien verzierten Vorderdeckel von einer Hand des 15. Jahrhunderts mit Tinte eine knappe Inhaltsangabe trägt: Versus Egidii de vrina.

Auf dem Rücken ist das wohlbekannte Papierschild mit der Admonter Bibliothekssignatur 496 aufgeklebt. Die Handschrift umfaßt heute 24 Blätter und enthält die Versus de urinis des Gilles de Corbeil mit einem Kommentar des Gilbertus Anglicus (eine eingehende Beschreibung und Erläuterung des Inhaltes mit weiterführenden Literaturangaben ist im gerade erwähnten Buch von Andrea Rzihacek zu finden). Ein Blick auf das Ende des Buchblockes und den Hinterdeckelspiegel macht allerdings stutzig – könnte es sein, daß hier etwas fehlt?

Und in der Tat – nach der Beschreibung von Jakob Wichner umfaßte die Handschrift 39 Blätter, auf die Versus de urinis folgte f. 25r ein Traktat des Urso von Salerno, De effectibus qualitatum; daran schloß eine Version des unter dem Namen Trotula bekannten frauenmedizinischen Kompendiums an (wohl in einer verkürzten Form); und schließlich folgte mit Maurus von Salerno, De urinis ein weiterer Harntraktat. Alle diese Texte fehlen in der hier angebotenen Handschrift, die daher nicht dem Zustand entspricht, in dem sie bis 1934 im Stift Admont verwahrt wurde. In diesem Jahr wurde der Codex an das Züricher Antiquariat L’Art ancien, damals unter der Leitung von Arthur Späth, verkauft. Die weitere Geschichte des Codex und insbesondere seiner seither stattgefunden Zerteilung, ist derzeit unbekannt. „Seit den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts“, so die Katalogbeschreibung von Reiss & Sohn, befand sich die Handschrift „in einer deutschen Privatsammlung“ – nach dem am Schluß des Katalogs gedruckten Einbringerverzeichnis vermutlich die selbe, die auch die als Los 1 angebotener Aggsbacher Handschrift enthielt.

[1] Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs. Bd. 1: Niederösterreich. Bearbeitet von Theodor Gottlieb (Wien 1915) [Digitalisat] 565 Z. 22f. und 24f.

[2] Die Handschrift ist auch erwähnt in Christine Glaßner, Abgewanderte Handschriften aus der Göttweiger Bibliothek, in: Vom Schreiben und Sammeln. Einblicke in die Göttweiger Bibliotheksgeschichte. Ed. Astrid Breith, unter Mitarbeit von Nikolaus Czifra, Christine Glaßner und Magdalena Lichtenwagner (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 74, St. Pölten 2021) 169-194, hier 185f., wo die Beschreibung von Werl abgedruckt ist.

[3] Bernhard Rameder, Stift Göttweig zwischen den Kriegen: Verkauf und Erwerb von Kulturgütern in Notzeiten, in: „dass die Codices finanziell unproduktiv im Archiv des Stiftes liegen.“ Bücherverkäufe österreichischer Klöster in der Zwischenkriegszeit. Ed. Katharina Kaska und Christoph Egger (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 77, Wien 2022) 97-116, hier 113; Ders., Göttweiger Bücher im Salzberg. Die Bergung der Göttweiger Handschriften während des Zweiten Weltkrieges im Salzbergwerk Altaussee, in: Vom Schreiben und Sammeln (wie Anm. 2) 195-215, hier 205.

[4] Andrea Rzihacek, Medizinische Wissenschaftspflege im Benediktinerkloster Admont bis 1500 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 46, Wien / München 124f.

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Ein neues Fragment des Missale Salisburgense aus der Fragmentsammlung des Zentralarchivs des Deutschen Ordens (DOZA) in Wien

Im Zentralarchiv des Deutschen Ordens (DOZA) in Wien befindet sich ein nicht unerheblicher Teil der historischen Überlieferung des Deutschen Ordens.[1] Zwar kann nicht von  „der“ zentralen Überlieferung gesprochen werden, vielmehr werden im DOZA Sammlungen unterschiedlicher Provenienzen aufbewahrt. So befindet sich als ein bedeutender Bestand das Archiv des Hochmeistertums aus Mergentheim im DOZA.[2] Weiterhin wurden Bestände zu verschiedenen Balleien, etwa von Böhmen oder der Ballei an der Etsch und im Gebirge, im DOZA abgeliefert. Von Anfang an lag der Bestand der Ballei Österreich in Wien.

Unter der Signatur Hs. 551 wird im DOZA eine Mappe aufbewahrt, in der sich die Makulatur befindet, welche im Verlauf der letzten rund 100 Jahre von den dortigen Beständen abgelöst worden war. Die 30 hier verwahrten Fragmente dienten als Einbände von Steuerregistern, Zehntbüchern, Urbaren, Zinsbüchern, Protokollen und Prozessunterlagen aus den Kommenden Großsonntag, Gumpoldskirchen, Laibach und Wiener Neustadt.[3] Die Laufzeit dieser Trägerbände erstreckte sich auf den Zeitraum von 1565 bis 1698.[4] Bei den eben genannten Kommenden befindet sich weitere Makulatur noch in situ, wie Stichproben in diesen Beständen ergeben haben. Es ist also mit weiteren Fragmenten, die aus denselben Handschriften stammen können, zu rechnen.

29 der 30 genannten Fragmente stammen aus mittelalterlichen Handschriften, deren Inhalt hauptsächlich im liturgischen Bereich (Brevier, Lektionar, Missale) zu verorten war, bestand aber auch aus theologischen Traktaten, wie die Ausführungen des Kirchenvaters Augustinus zum Johannes-Evangelium,[5] Bibeln, Grammatiktexte[6] oder historische Abhandlungen.[7]

Abb. 1: Fragment des Missale Salisburgense

Ein einziges Fragment war Bestandteil einer Inkunabel.[8] Das Pergamentblatt ist am Rand beschnitten, es fehlen von der der Bindung zugewandten Spalte ca. zwei Buchstaben. Die Außenmaße je Seite betragen 310 x 185 mm, der geringfügig beschnittene Schriftraum 260 x 160 mm. Der Text ist zweispaltig gesetzt mit 38 Zeilen je Spalte. Wie bei liturgischen Texten üblich sind die Gesangstexte in einer etwas kleineren Schrifttype gedruckt. Mit roter Tinte wurden die Überschriften sowie die Foliierung LI gedruckt. Diese befindet sich annähernd mittig über der b-Spalte der Recto-Seite. Weiterhin finden sich dreizeilige rote Lombarden zu Beginn einzelner liturgischer Texte.

Zum ehemaligen Trägerband lassen sich leider keine genauen Angaben machen. Auf dem rechten Rand von f. 51r befindet sich die Angabe SchlüssRachtüng vor Durget Wax Anno 1625 biß […] Anno 1626. Ein Band mit einem Friedenabschluss einer entsprechenden Person ist in den Archivalien im DOZA nicht nachweisbar. Aufgrund der Knickspuren und der Positionierung der Aufschrift des Trägerbandes quererlaufend zum Inkunabel-Text auf dem rechten Rand kann gefolgert werden, dass es sich bei dem Trägerband um einen Quart-Band gehandelt haben muss.

Die Formulare, die sich auf f. 51rv befinden, gehören zu einem Missale mit Auszügen zur Feria quinta et Feria sexta post dominicam quartam quadragesimam, also aus der Fastenzeit. Der Text setzt mitten in der Postcommunio zur Feria quinta ein. Die Feria sexta wird eigens als solche bezeichnet. Das Formular umfasst die Teile vom Introitus-Psalm bis zur Evangelien-Lesung Erat quidem languens (Io 11,1 ff.), die sich auf der gesamten Verso-Seite hinzieht.

Abb. 2: Unterer Teil von f. 51v mit Ausschnitten aus der Evangelien-Lesung.

Die im Fragment aufgeführte Liturgie entspricht, wie ein Vergleich mit dem Liber Ordinarius gezeigt hat, nicht der Liturgie des Deutschen Ordens, vielmehr kann es als Rest eines Missale Salisburgense angesprochen werden. Die Drucktype deutet auf das von Georg Stuchs für Johannes Rynman in Nürnberg 1498 gedruckte Missale.[9] Ein Verglich mit dieser in der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB) München vorhandenen Inkunabel bestätigt diese Vermutung.[10]

Diese Inkunabel ist in wenigen kompletten Exemplaren hauptsächlich in österreichischen Bibliotheken vorhanden, ein Großteil der Überlieferung basiert indessen auf Fragmenten.[11] So besitzen heute nach den Angaben im ISTC u.a. die Dominikaner in Friesach (heute in der Dominikanerbibliothek in Wien), die Stiftsbibliothek St. Peter in Salzburg (Fragment), die Benediktiner in St. Lambrecht, St. Paul (nur ein Blatt) und St. Peter in Salzburg sowie die Vorauer Chorherren unvollständige Exemplare bzw. Fragmente. Lediglich die Bibliotheken in Graz und Klagenfurt scheinen unbeschädigte Codices zu besitzen. Das hier vorliegende Fragment ist zudem eines der sehr wenigen Drucke auf Pergament.

Außer dieser Inkunabel aus dem Jahr 1498 druckte Georg Stuchs in Nürnberg bereits 1492 ein Missale Salisburgense, von dem sich deutlich mehr Textzeigen erhalten haben.[12] Die beiden Inkunabeldrucke von 1492 und 1498 sind die einzigen vor dem Jahr 1500.

Da die Liturgie der Kirchenprovinz Salzburg die im österreichischen Raum vorherrschende ist, verwundert es nicht weiter, dass unter der anderen Makulatur der Sammlung im DOZA ebenfalls Reste von Missale-Handschriften mit Salzburger Provenienz zu finden sind. So spiegeln die Fragmente Nr. 2-3,[13] 12, 22 und 24 ebenfalls die Salzburger Liturgie wider.

Die Salzburger Liturgie ist vergleichsweise gut erforscht. Dies liegt zu einem erheblichen Teil an dem bis 2019 an den Universitäten Graz und Wien beheimateten Cantus Network-Projekt begründet, in welchem die Libri Ordinarii, die für Messe und Offizium maßgeblichen Regelbücher, ediert, digitalisiert und erforscht wurden.[14] Der Liber Ordinarius diente als Grundlage für die Ausformulierung der für den Gottesdienst notwendigen Handschriften, wozu das Missale als „Haupt“-Text zu rechnen ist. Das Missale selber kann je nach Kirche oder Orden gleichwohl liturgische Unterschiede zum Liber Ordinarius aufweisen, diese bewegen sich jedoch in einem kleinen Rahmen.

Mittelalterliche Handschriften des Typs Missale Salisburgense sind in einiger Zahl vorhanden.[15] So wird bspw. in der UB Graz ein Missale Salisburgense aus der Zeit um 1200 aufbewahrt, welches aus dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau, das auch einige Libri Ordinarii ihr Eigen nannte, stammt.[16] Dieser Codex weist Seckauer Eigenheiten auf. „Reine“ Salzburger Liturgie findet sich in Archiven und Bibliotheken in Graz (Diözesanarchiv und UB),[17] Klosterneuburg (Augustiner-Chorherrenstift),[18] Salzburg (Archiv der Erzdiözese und Museum)[19] und Wien (ÖNB).[20]

Die letztgenannte Handschrift, Cod. 14123 der ÖNB, war ursprünglich im DOZA beheimatet.[21] Sie wurde aus der Ordensbibliothek mit weiteren, mindestens 339 Handschriften, auch Liturgica sowie theologische Codices aus dem Zeitraum des 13. bis 15. Jahrhunderts, für 900 Gulden 1861 an die Wiener Hofbibliothek verkauft.[22] Stichhaltige Gründe für den Verkauf seitens des Deutschen Ordens sind nicht bekannt.


[1] P. Klemens Wieser OT, Das Zentralarchiv des Deutschen Ordens in Wien, in: Archivalische Zeitschrift 60 (1964), S. 131-152. P. Frank Bayard OT, Das Deutschordens-Zentralarchiv in Wien, in: Österreichische Archive. Geschichte und Gegenwart, hg. von Petr Elbel, Brünn 2019, S. 486-503.

[2] Karl Lampe, Die Auflösung des Deutschordenshauptarchivs zu Mergentheim, in: Archivalische Zeitschrift 57 (1961), S. 66-130.

[3] Zu Großsonntag, Laibach und Wiener Neustadt vgl. P. Marian Tumler OT: Der Deutsche Orden im Werden, Wachsen und Wirken bis 1400 mit einem Abriß der Geschichte des Ordens von 1400 bis zur neuesten Zeit, Wien 1955, S. 54 und 92-95. Zu Gumpoldskirchen vgl. Günther Ollinger, Der Deutsche Orden in Gumpoldskirchen – Eine Entwicklungsgeschichte – Von den Anfängen bis zum 17. Jahrhundert, Magisterarbeit Univ. Wien 2011, S. 58-64.

[4] Anette Löffler, Makulatur und ihre Trägerbände im Zentralarchiv des Deutschen Ordens (DOZA) in Wien, in: Deutscher Orden 1 (2021), S. 22-30.

[5] Anette Löffler, Die Makulatursammlung (Hs. 551) im Zentralarchiv des Deutschen Ordens in Wien. Katalog und Beschreibung des Bestandes (Erschließung abgeschlossen, Druck in Vorbereitung), Nr. 5.

[6] So bspw. ein Fragment aus dem Liber derivationum des Huguccio von Pisa, vgl. Löffler (wie Anm. 5), Nr. 27.

[7] Hier ein Fragment aus De bello judaco des Flavius Josephus, vgl. Löffler (wie Anm. 5), Nr. 30.

[8] Löffler (wie Anm. 5), Nr. 19.

[9] GW M24689; istc im00719000.

[10] BSB München, 2 Inc. c. a. 3667, f. 51rv (Aufnahme 128-129). ‚Missale Salisburgense‘, Bild 128 von 556 | MDZ (digitale-sammlungen.de)

[11] Hinzu kommen sieben, teilweise unvollständige Exemplare in anderen Ländern.

[12] GW M24684. ISTC im00718000.

[13] Bei Fragment Nr. 3 ist die Reihenfolge der Formulare der Votivmessen verändert.

[14] https://gams.uni-graz.at/context:cantus/sdef:Context/get?locale=de 

[15] Ferdinand Eichler, Eine Salzburger Missalienwerkstätte des späten XV. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 15 (1940), S. 163-168. Friedrich Simander, Ein vermutliches Missale Salisburgense der British Library, in: Codices manuscripti 48/49 (2004), S. 7-12.

[16] UB Graz, Ms 479. Zum Digitalisat Austrian Literature Online: Missale Salisburgense. (1200). Weitere Handschriften dieses Typs vgl. UB Graz, Ms 417, Ms 456, Ms. 469, Ms. 474 und Ms 716.

[17] Diözesanarchiv Graz, Cod. 8801 – XVIII C 7/33. UB Graz, Ms 74, Ms 112, Ms 131, Ms 281, Ms 285, Ms 444 und Ms 767.

[18] StiftB Klosterneuburg, Cod. 610.

[19] Salzburg, Erzbischöfliches Konsistorialarchiv, Cod 2. Salzburg Museum, Hs 858.

[20] ÖNB Wien, Cod. 14123.

[21] Robert Klugseder e.a., Katalog der mittelalterlichen Musikhandschriften der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Codices mansucripti & impressi, Supplementum 10), Purkersdorf 2014, S. 208-210 und Abb. 67a-d.

[22] Franz Lackner, Zum Kauf der Handschriften der Bibliothek des Deutschen Ordens in Wien durch die Hofbibliothek im Jahre 1861, in: Codices manuscripti 25 (1998), S. 17-33, mit einer Liste der verkauften Handschriften auf S. 26-31. Zu den liturgischen Handschriften Robert Klugseder, Die mittelalterlichen liturgischen Handschriften der Bibliothek des Deutschen Ordens in Wien, in: Codices manuscripti 73/74 (2010), S. 31-42.

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Päpste unter dem Hammer (Beobachtungen aus Auktions- und Antiquariatskatalogen II)

In den am 1. August 1373 von Papst Gregor XI. herausgegebenen Konstitutionen für das Kapitel der Lateranbasilika in Rom wird die Verwahrung der Privilegien und anderen Urkunden folgendermaßen geregelt:

[II, 30] Et privilegia, statuta et instrumenta sine licentia domini cardinalis, vel eo absente eius vicarii et capituli, nullus temptet de loco ubi sunt reposita removere, nisi pro evidenti causa ipisus ecclesie vel alicuius deservientium in eadem. Et tunc manibus vicarii seu camerariorum infra tempus per vicarium et cameriarios prefigendum debeat ad ipsos camerarios reportare. Contrarium faciens excommunicationis sententia se noverit innodatum, a qua absolvi nequeat nisi illa reportet primitus ad sacristie locum unde receperat[1].

Etwas freier übersetzt: Die Privilegien, Kapitelstatuten und anderen Urkunden darf niemand ohne Erlaubnis des Erzpriesters der Lateranbasilika oder, wenn dieser abwesend ist, seines Vikars und des Kapitels, aus ihrem Aufbewahrungsort entfernen – ausgenommen, eine zwingende Notwendigkeit erforderte dies; aber auch dann sind die entlehnten Dokumente innerhalb einer festzusetzenden Frist an die zuständigen Amtsträger zurückzustellen. Wer zuwiderhandelt, verfällt der Exkommunikation, von der er nur gelöst werden kann, wenn er zuvor die Dokumente zurückbringt.

Über sehr lange Zeit hat man im Archiv des Laterankapitels diese Regelung getreu beherzigt – das Archiv war auch im 19. und 20. Jahrhundert notorisch unzugänglich und schwierig zu benützen: so schreibt der deutsche Historiker Julius von Pflugk-Harttung in seinem Iter Italicum[2], daß ihm zwar auf Empfehlung des Erzpriesters der Lateranbasilika Kardinal Chigi der Zutritt zum Archiv gestattet wurde, aber: „Mich [sic] wurde versichert, dass alle Urkunden in Kisten verpackt und deshalb unzugänglich, päpstliche Originale meiner Zeit, so weit bekannt, nicht vorhanden seien.“ Daß beides ein Vorwand war, erfuhr bald darauf Paul Fridolin Kehr, als er im Zuge der Vorarbeiten für die Italia pontificia das Archiv besuchte – versehen mit einer Empfehlung des Präfekten der Vatikanischen Bibliothek Franz Ehrle und vermittelt durch einen Kanoniker von St. Peter: „Der Archivar Mons. Basilio Pompili erwies mir die größte Freundlichkeit“ und Kehr bekam sowohl Archivverzeichnisse als auch Originalurkunden und Kopialbücher vorgelegt. So konnte er im zweiten seiner Berichte über Papsturkunden in Rom auch ausführlich die Bestände des Lateranarchivs behandeln[3] und aufgrund seiner Beobachtungen später noch ein längeren Aufsatz verfassen[4]; seine Beobachtungen flossen auch in den entsprechenden Abschnitt der Italia pontificia ein[5]. Auch der französische Historiker und Autor einer umfangreichen Geschichte des Lateranpalastes Philippe Lauer konnte nur mit großer Mühe Zugang zum Archiv erlangen: „J’ai eu quatre mois de négociations très pénibles à mener avant de pouvoir entrer dans ces archives en 1899, et si j’y suis parvenu, je le dois à l’intervention de l’ambassade de France à Rome, ainsi qu’à la bienveillance de l’archiprêtre, du doyen et de l’archiviste de la basilique.“[6] Ein zuverlässiges gedrucktes Verzeichnis der Urkunden ist erst seit wenigen Jahren zugänglich: es wurde 2010 vom langjährigen Mitarbeiter der Vatikanischen Bibliothek und Laterankanoniker Louis Duval-Arnould veröffentlicht[7].

Für 14. bis 28. April 2021 hat das Auktionshaus Christie’s eine Online-Auktion angekündigt, deren Spitzenstücke (Lot 1 und 2) ein feierliches päpstliches Privileg Papst Innocenz’ II. und eine Littera cum serico Papst Innocenz’ III. sind. Im dem literarischen Genus „Auktionskatalog“ eigenen hochtönenden Stil wird festgestellt, daß „The present document appears to be the earliest papal bull to have been offered at international auction in at least the last 40 years“, und die Schätzpreise sind dementsprechend angesetzt.

Das feierliche Privileg Innocenz’ II. ist am 21. Juni 1138 in Rom (Lateran) ausgestellt; es bestätigt ein feierliches Privileg Papst Honorius’ II. und ist in der Tat ein prachtvolles Stück:

Christie’s 14,-28.4.2021 lot 1

Begünstigt ist das Hospital bei der Lateranbasilika, das sich später unter der Verwaltung des Laterankapitels befand. Auf der Rückseite der Urkunde finden sich eine Archivsignatur und ein kurzes Regest von einer Hand des 18. Jahrhunderts:

Auf beides wird gleich zurückzukommen sein.

Äußerlich etwas bescheidener tritt die als Lot 2 angebotene Littera Innocenz’ III. auf; allerdings ist hier noch die an Seidenschnüren befestigte Bulle am Stück erhalten.

Christie’s 14,-28.4.2021 lot 2

Die Littera ist in Rom (Lateran) am 12. Dezember 1210 ausgestellt – die im Auktionskatalog gegebene Auflösung von „II Idus Decembris pontificatus nostri anno tertiodecimo“ als 2. Dezember 1210 ist falsch. Empfänger der Littera sind Prior und Konvent der Lateranbasilika – das Kapitel bestand im 12. und 13. Jahrhundert aus Augustiner Chorherren – und es geht um die Entscheidung des Papstes in einem Streit des Kapitels mit dem Prior und den Mönchen von SS. Quattro Coronati um Pfarrgrenzen[8]. Der Text der Littera ist im Wortlaut der Ausfertigung für SS. Quattro Coronati in das päpstliche Kanzleiregister eingetragen worden[9], im Wortlaut der Ausfertigung für das Laterankapitel ist das Stück in eine am 7. November 1216 ausgestellte Urkunde Honorius’ III. für das selbe inseriert[10].

Auch die Littera Innocenz’ III. trägt auf der Rückseite eine Signatur und einen Archivvermerk

Es ist deutlich – Signaturen und Vermerke auf beiden Stücken stammen von der selben Hand, beide Stücke daher aus dem selben Archiv – und dieses Archiv ist das Archiv des Kapitels der Lateranbasilika. Der Urheber der Signaturen und Archivvermerke ist der Benediktiner Pier Luigi Galletti, der das Archiv 1763 einer Ordnung und Verzeichnung unterzogen hat. In einer von Galletti angelegten Sammlung von Urkundenabschriften und Notizen, heute Cod. Vat. lat. 8034 der Vatikanischen Bibliothek, ist der Text der Innocenz III.-Littera auf f. 64r kopiert, das Datum allerdings fälschlich mit der Jahresangabe 1211 aufgelöst – ebenso wie im Archivvermerk auf der Rückseite der Littera[11].

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts befanden sich beide Urkunden noch im Kapitelarchiv, als sie der damalige Archivar Giovanni Muccioli in einem von ihm angelegten Summarium omnium bullarum que in Tabulario Lateranensi asservantur beschrieb[12]. Auch bei seinem Besuch im Jahr 1900 scheint Paul Fridolin Kehr noch das Original des feierlichen Privilegs Innocenz’ II. gesehen zu haben[13]. Irgendwann danach müssen die beiden Stücke und noch eine größere Anzahl weiterer abhanden gekommen sein – in der Einleitung seines Inventars vermerkt Duval-Arnould, daß von den 1840 von Giovanni Muccioli verzeichneten Papsturkunden heute 42 fehlen – „Per queste ultime si può presumere che non si tratti di perdite accidentali, ma probabilmente di furti.“[14]

Wenigstens für das feierliche Privileg Innocenz’ II. vom 21. Juni 1138 und die Littera cum serico Innocenz’ III. vom 12. Dezember 1210 wird man das „probabilmente“ leider in ein „sicuramente“ ändern müssen. Das Weitere ist für die handelnden Personen wohl leider „nur“ eine Gewissensfrage … bei deren Beantwortung in unserer säkularisierten Zeit eine Erinnerung an die in den eingangs zitierten Kapitelstatuten von 1373 ausgesprochene Sanktion wohl noch weniger als Ansporn zum rechten Handeln dienen wird, als in der zumindest vordergründig gottesfürchtigeren Vergangenheit: Contrarium faciens excommunicationis sententia se noverit innodatum, a qua absolvi nequeat nisi illa reportet primitus ad sacristie locum unde receperat.


Nachtrag 28. April 2021:
Vielleicht ist ein kleiner Hinweis auf die Tatstrafe der Exkommunikation doch nicht so wirkungslos – selbst wenn er in lateinischer Sprache gehalten ist … bei dieser Auktion sind die beiden Urkunden jedenfalls unverkauft geblieben.


[1] Statuti e costituzioni medievali del Capitolo Lateranense. Ed. Louis Duval-Arnould e Jochen Johrendt con la collaborazione di Anna Maria Voci (Tabularium Lateranense 2, Cittá del Vaticano 2011) 146.

[2] Julius Pflugk-Harttung, Iter Italicum (Stuttgart 1883) 79.

[3] Paul Fridolin Kehr, Papsturkunden in Rom. Zweiter Bericht, in: Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse 1900, Heft 3, 360-436, zum Lateranarchiv 397-400 (Nachdruck: Paul Fridolin Kehr, Papsturkunden in Italien. Reiseberichte zur Italia pontificia II: 1899-1900 (Acta Romanorum Pontificum 2, Città del Vaticano 1977) 513-589). Wirklich ungehinderte Forschungen waren ihm aber erst bei einem weiteren Besuch möglich: Paul Fridolin Kehr, Nachträge zu den römischen Berichten, in: Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-historische Klasse 1903, Heft 5, 505-591. hier 532f. (Nachdruck: Kehr, Papsturkunden in Italien. Reiseberichte zur Italia pontificia IV: 1903-1911 (Acta Romanorum Pontificum 4, Città del Vaticano 1977) 163-249).

[4] Paul Fridolin Kehr, Römische Analekten, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 14 (1911) 1-37, hier 1-26: Die falschen Papsturkunden des Lateran (Nachdruck: Kehr, Papsturkunden in Italien IV: 1903-1911 (Acta Romanorum Pontificum 4, Città del Vaticano 1977) 419-455).

[5] Italia pontificia I: Roma, bearb. v. Paul Fridolin Kehr (Berlin 1906) 22-35 (Digitalisat).

[6] Philippe Lauer, Le Palais du Latran (Paris 1911) 345. Lauer bietet auch eine knappe Liste der Urkunden (633-639), doch ist diese möglicherweise nicht immer aufgrund der Originale erstellt – siehe unten Anm. 11.

[7] Louis Duval-Arnould, Le pergamene dell’Archivio Capitolare Lateranense. Inventario delle serie Q e bollario della chiesa lateranense (Tabularium Lateranense 1, Città del Vaticano 2010).

[8] Über die im Zuge dieses Streites hergestellten Fälschungen vgl. Kehr, Römische Analekten (wie Anm. 4).

[9] ASV, Reg. Vat. 8, f. 43r; Die Register Innocenz’ III. 13. Band: 13. Pontifikatsjahr, 1210/1211. Texte und Indices. Bearb. v. Andrea Sommerlechner und Herwig Weigl gemeinsam mit Othmar Hageneder, Rainer Murauer und Reinhard Selinger (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturforum in Rom II/1/13, Wien 2015) 293-295 Nr. 195 (197) (Digitalisat des gesamten Bandes). August Potthast, Regesta Pontificum Romanorum (Berlin 1874, Ndr. Graz 1957) Nr. 4144.

[10] ASV, Reg. Vat. 9, f. 15r-15v; Pietro Pressutti, Regesta Honorii Papae III, 2 Bde. (Rom 1888, Ndr. Hildesheim / New York 1978) I, 16 Nr. 91 (Abdruck des gesamten Textes aus dem Register ebd. p. LXXsq.); Das Original des Honorius-Privilegs befindet sich unter der Signatur Q.I.A.5 im Kapitelarchiv, vgl. Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 235 Nr. 47.

[11] Der Jahresangabe von Galletti folgt anscheinend Lauer, Le palais (wie Anm. 6) 634f. Nr. 33.

[12] Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 9f. zu den Bemühungen von Galletti und Muccioli.

[13] Italia Pontificia I, 35 Nr. 3, abgedruckt in Pressutti, Regesta (wie Anm. 10) I, LXVILXV.

[14] Duval-Arnould, Le pergamene (wie Anm. 7) 11. In seinem „Bullarium“ hat Duval-Arnould die nun bei Christie’s angebotenen Urkunden Innocenz’ II. (226 Nr. 12) und Innocenz’ III. (234 Nr. 44) aufgrund der kopialen Überlieferung verzeichnet und das Fehlen der Originale vermerkt.

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A Most Unexpected Find. A List of Books Kept in Pope Innocent III’s Bedchamber

by April A. Pril, Librarian, Hermes Academy of Business and Management Studies, Little Big Hoax, WY, USA

I’m most grateful to the editors of the Iter Austriacum Blog for allowing me to publish a first account of what I believe is a most exiting find which might well shed new light on the private life and favourite pasttimes of one of the greatest medieval popes, pope Innocent III.

The Fiddler A. Greedy Memorial Library of the Hermes Academy of Business and Management Studies recently acquired a copy of a German academic dissertation, published in 1623 in Munich and concerned with lying and fraud. It is therefore of tremendous importance for any formation in entrepreneurship.

Unfortunately the provenance of the book, which was acquired from the antiquarian bookdealer Shady Books Inc., is not known – somebody has taken great pains to remove a few lines of text and a stamp on the upper pastedown of the volume. Rumours have it that the last owner was a former highranking official of the US government and well known practitioner in the field of lies and fraud who recently suffered a severe career-setback.[1]

The short pamphlet (only 37 pages) was wrapped in a leaf of parchment which was removed in the course of conservation treatment. On the reverse side of the leaf, although heavily damaged, writing could be recognized which upon closer inspection turned out to be a letter by pope Innocent III to his chamberlain Octavian. Traces of folding and cuts in the margins indicate that the leaf is the original letter, which was dispatched as a letter close – the cuts resulting from the opening of the letter. The leaden bull once affixed to the document of course is lost. The damaged state of the parchment notwithstanding the reading of the text is not problematic. What follows, is a provisional edition of the text and a short commentary. However, due to the lack of appropriate equipment, so far it had not been possible to produce images. These will be provided on a later occasion.

Innocentius episcopus servus servorum Dei dilecto in Christo filio Octaviano camerario nostro salutem et apostolicam benedictionem. Salvatore nostro hortante qui dicit “Venite seorsum in desertum locum et requiescite pusillum” [Mc 6,31] nuper de Urbe ad Sublacensem monasterium accessi sumus ut sedentes cum Maria secus pedes Domini audiamus verbum eius [Lc 10,39]. Sed inimicus hominum nec etiam septima die quiescit [Gn 2,2] immo non desinit zizaniam superseminare agro dominico [Mt 13,25] ita ut incessanter cum Martha solliciti esse debemus et turbari erga plurima [Lc 10,41]. Sed heu, quia quietem expectantes fuimus et non laborem, unum tantum librum nobiscum portavimus, memores illius qui frequentem meditationem carnis adflictionem esse dixit [cf. Ecl 12,12]. Nunc vero dierum malitia [Mt 6,34] compulsi plurimorum librorum copia nobis necesse est, illo testante qui lectorem unius libri timendum esse asseruit[2]. Ideoque discretionem tuam per apostolica scripta precipiendo mandamus ut in cubiculum nostrum ingrediens hos sequentesque libros accipias et nobis tam cito quam possis transmittere curas. Libri vero sunt isti:
Pars regestorum cancellarie nostre annorum 3 et 4 pontificatus nostri complectens
Item magistri Philippi de Grevia liber poematum qui incipit “Pater sancte dictus”[3]
Item Aristotelis philosophi de Poetica liber IIus[4]
Item Ioachimi abbatis liber de consideratione ad Innocentium papam[5]
Item tractatus Gualteri cantatoris de nimia iuventute pape, scriptus in lingua barbarica, quem episcopus Pataviensis nuper ad nos transmisit[6]
Item dictatus pape de damnanda et detestanda gente persecutorum qui incipit „Bellum in terris et tabula rasa“[7]
Datum apud monasterium Sublacense, V Idus Augusti, anno quinto [9 August 1202]

It is a well known fact that Innocent III in 1202 spent part of the summer as a guest of the Benedictine monastery of Subiaco in Lazio. The stay was not without inconveniences, as a vivid description written by a member of the Curia shows[8]; several papal letters were issued in the respective period.[9] The letter in question thus fits well with the papal itinerary. There is also evidence that Innocent III was an avid reader, always keeping books at his bedside. The Welsh cleric Gerald, while persuing business at the papal Curia, presented the pope with some of his works which the pope kept in his private chamber near his bed for more than a month.[10] There is even a picture showing an abundantly filled bookshelf above the papal bed:

Fra Angelico, Coronation of the Virgin and Life of St Dominic (Detail)
(Louvre, Département des Peintures, INV 314)

The authenticity of the letter can therefore be regarded as proven beyond any reasonable doubt.

A further point is to be made – the entries in the list provide the names of several works of medieval latin literature which so far have escaped scholarly attention. The letter is therefore an important addition to our knowledge of medieval latin literature.[11]

A more detailed enquiry in this important source should be left to scholars more competent in the field of papal history than I am. I would however like to use the occasion and make an offer to my esteemed scholarly audience. While the dissertation De mendacio ac dolo is obviously of the greatest relevance for business and management studies, Innocent III’s letter is not. The Hermes Academy of Business and Management Studies therefore decided to deaccession the document. The most interesting and quite unique parchment is therefore for sale. Offers will be accepted until April 1, 2022. Please write to nosuchaddress@foolish.com. Advance payments only, only Bitcoins accepted. Don’t miss this opportunity – when it is gone it is gone!


[1] Personal information from Mr. William Libri, owner of Shady Books Inc.

[2] For this saying, cf. Andreas Fritsch, “Timeo lectorem unius libri,” Vox Latina, 19 (1983), pp. 309-315.

[3] Undoubtedly a collection of poems by the Paris master Philipp the Chancellor, who is known to be the author of a short piece dedicated to Innocent III himself, starting with the line Pater sancte dictus Lotharius.

[4] As the outstanding Italian medievalist Umberto Eco has convincingly demonstrated in his important book “Il nome della rosa” (Milan, 1980), the only copy of the second book of Aristotle’s Poetics was extant and ultimately destroyed in the library of an unknown cluniac monastery in the Apennine in the 1320s. Here, however, is evidence that in the early 13th century the book belonged to the papal library.

[5] There is of course Bernard of Clairvaux’s well known treatise De consideratione ad Eugenium papam, dedicated to pope Eugenius III. It seems that a certain Joachim – undoubtedly the Calabrian abbot Joachim of Fiore (d. 1202) – followed Bernard’s example and directed a similar treatise to Innocent III, which unfortunately is not known to survive. The implications of this are widereaching: as Eugenius was Bernard’s disciple, could it be thus established that Innocent was linked to Joachim in a similar way? It is known from elsewhere that the pope was quite familiar with the abbot’s thoughts and ideas. More research needs to be done on this intriguing question.

[6] This entry is a riddle. Is it possible that the Gualterus cantator is to be identified with the famous Minnesanger Walther von der Vogelweide? He was known to be close to Wolfger, bishop of Passau (Patavium) in Bavaria 1190-1204. Walther was actually complaining about the pope’s young age in one of his songs: „owê der bâbest ist ze jung, hilf, hêrre, dîner kristenheit“. This would fit the description of the language as „barbarica“ very well – for which see the thourough and definitive philological study by Mark Twain, The Awful German Language (Hartfort CT / London 1880).

[7] No such work is known to survive. It is just a wild guess that this is a treatise written by Innocent III (dictatus pape!) against the Hohenstaufen dynasty, now unfortunately lost. The use of gens persecutorum in Innocent’s other authentic letters gives some support to this hypothesis: see Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii, ed. Friedrich Kempf (Miscellanea Historiae Pontificiae 12, Roma 1947) n. 29 p. 83 l. 12-3; n.. 33 p. 107 l. 1; n. 62 p. 174 l. 6; n. 92 p. 244 l. 3-4 etc.

[8] Karl Hampe, “Eine Schilderung des Sommeraufenthaltes der römischen Kurie unter Innocenz III. in Subiaco 1202,” Historisch Vierteljahresschrift 8 (1905), pp. 509-535; and see Brenda M. Bolton, “The caravan rests: Innocent III’s use of itineration,” Omnia disce – Medieval Studies in Memory of Leonard Boyle, O.P. Eds Anne J. Duggan, Joan G. Greatrex, Brenda M. Bolton (Church, faith, and culture in the medieval West, Aldershot 2005), pp. 41-60.

[9] Die Register Innocenz‘ III., 5. Pontifikatsjahr, 1202/1203. Texte. Ed. by Othmar Hageneder with Christoph Egger, Karl Rudolf and Andrea Sommerlechner (Publikationen des Historischen Instituts beim Osterreichischen Kulturinstitut in Rom II/1/5, Vienna, 1993), nos 73 (74)-82 (83), pp. 142-165.

[10] Gerald of Wales, De rebus a se gestis III, 18, ed. J. S. Brewer (Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores 21/1, London 1861), p. 119: “Libros autem illos papa, quia copiose literatus erat et literaturam dilexit, circa lectum suum indivisos per mensem fere secum tenuit …“

[11] Presumably all of them have been missed in Thomas Haye, Verlorenes Mittelalter. Ursachen und Muster der Nichtuberlieferung mittellateinischer Literatur (Mittellateinische Studien und Texte 49, Leiden / Boston, 2016) – but because this book has been published in German I’m not able to tell. Let me make this one point clear: it is irresponsible to publish important results in such minority languages as German and  thus withhold them from the competent scholarly audience they would otherwise reach.

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Als die Päpste Thomas Bradwardine lasen

Neue Funde zum Schrifttum von Heinrich von Langenstein

„Merke es: Unser allerheiligster Papst Nikolaus V hat dieses Buch vergangenes Jahr in Frankfurt gesehen, als er noch weder Kardinal, noch Papst war, und er hat mir, Nikolaus, geschrieben, dass die Engländer dieses Buch sehr rühmen, und dass es hier, wie es an mehreren Stellen offenkundig ist, in einer Verkürzung vorliegt, und dass Meister Heinrich von Hesse in seinem Werk über die Genesis viel gegen das Anliegen des Schreibers geschrieben hat.“

Bernkastel-Kues, St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Cod. Cus. 93, fol. 164v
© St. Nikolaus-Hospital/Cusanusstift, Bernkastel-Kues

Diese Notiz, die der deutsche Gelehrte Nikolaus Cusanus 1447 in einen seiner Kodizes eingetragen hat,[i] schildert eine bislang unbekannte Verknüpfung. Sie beschreibt zwei Schlüsselwerke des europäischen Spätmittelalters als polemisierend miteinander verbunden: den Traktat De causa Dei (1344) von Thomas Bradwardine und den Genesiskommentar (1385-1397) von Heinrich von Langenstein. Der Mathematiker und Theologe an der Universität Oxford, Thomas Bradwardine (c. 1290-1349) argumentierte in seinem theologischen Hauptwerk De causa Dei gegen die Verteidiger der Autonomie und Freiheit des menschlichen Willens, indem er dessen Abhängigkeit von Gott und Freiheit vertrat.[ii] Der in Paris studierte deutsche Gelehrte Heinrich von Langenstein (1325-1397) griff Bradwardines Thesen in seinen Vorlesungen über die Bibel an der Universität Wien fünfzig Jahre später heftig an. Bradwardines Werk war damit neben Oxford und Paris auch in der Hauptstadt des Habsburgerreiches Gegenstand lebhafter Diskussion, theoretischen Widerstands und damit Teil der intellektuellen Tradition. Dass genau Langensteins Auseinandersetzung dem Italiener Tommaso Parentucelli hundert Jahre nach dem Erscheinen von De causa Dei und ein halbes Jahrhundert nach dem Ende von Langensteins Vorlesung über das Buch Genesis relevant erschien, zeigt den westeuropäischen Einfluss des magnum opus von Langenstein.[iii] Es ist gleich festzuhalten, dass die Erwähnung von Langensteins Auseinandersetzung mit Bradwardine darauf hinweist, dass der bibliophile und belesene Papst den ganzen Genesiskommentar gelesen hat, und zugleich einen Teil, der heute nur in wenigen Handschriften überliefert ist.

Der letzte Teil des Genesiskommentars nimmt hinsichtlich der Kontinuität des Texts und auch in der Überlieferung einen besonderen Platz ein. Er stört den Aufbau des Werkes, scheint nicht mehr zu Langensteins Vorlesung zu gehören, hat keinen exegetischen Inhalt, wird daher meist nicht mehr kopiert. Nimmt man die autographen Handschriften, die der Bibliothek des Collegium ducale gehörten und heute in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt sind, die an der Universität Wien vorgelesen wurden und die die Vorlagen für spätere Abschriften bildeten, ist der Genesiskommentar um zwei Bände länger: Codizes 4657 und 4718 kommentieren nicht mehr den Bibeltext, obwohl sporadische Hinweise auf den exegetischen Kontext nicht fehlen. Im gedruckten Katalog der ÖNB tragen beide Bände den Titel einer quasi-Theodizee: Commentaria de origine mali et de peccatis.[iv] Doch das Explizit in Cod. 4718 entspricht dem Explizit anderer, vollständiger Reihen des Genesiskommentars.[v] Außerdem steht in Cod. 4718 der Schlussvermerk auf fol. 183v–184r: “Hec ultima lectio scripta et non lecta nec correcta per venerabilem virum magistrum Henricum de Hassia.”[vi] Codices 4657 und 4718 gehören also auch zum Genesiskommentar, und müssen im Katalog auch den Titel Commentarius in Genesim tragen. Eine genaue Betrachtung dieser Handschriften, des Texts selbst und eine zusätzliche Angabe weisen aber auf die Existenz von zwei bislang unbekannten Traktaten in diesem Teil des Genesiskommentars von Langenstein hin.[vii] Dieser Beitrag möchte die zwei Traktate zum ersten Mal als zum Schrifttum von Heinrich von Langenstein gehörend beschreiben.

Der Genesiskommentar von Langenstein ist ein Hexaemeron, der nur das Schöpfungswerk und nicht das ganze Buch Genesis auslegt; genauer, ein Kommentar über Genesis 1:1 bis 3:19. Gemäß der Methode der Bibelauslegung im 14. Jahrhundert an der Universität Wien, wird die Hermeneutik der Bibelstelle aufgeführt, worauf Fragen – scholastische quaestiones – folgen, die einen thematischen Bezug zur Bibelstelle haben. Mit dieser Methode hört Langenstein in Cod. 4657 auf; es folgt ein rein theoretischer Teil, wo keine Bibelstelle mehr ausgelegt wird. In diesem Teil lassen sich rasch separate Traktate identifizieren, die an den Rändern mit ihren Titeln angegeben werden. Der erste ist der Tractatulus de somniis, derLangensteins Interesse an kognitiven Prozessen beim Menschen bezeugt: er beschreibt die Entstehung von Träumen, Prophezeiungen, Täuschungen, Visionen, Phantasmen.[viii] Auf diesen ca. achtzig Folia langen Teil folgt in Cod. 4657 ein deutlich längerer, der auf fol. 103r oben wie folgt eingeführt wird: “Sequitur Incipit volumen de necessitate fatali.”

Wien, ÖNB, Cod. 4657, fol. 103r.

Laut diesem Hinweis, der vielleicht als Vormerkung für eine nicht ausgeführte Rubrik diente, beginnt also ein neuer Abschnitt im Genesiskommentar, und zwar kodikologischer, nicht inhaltlicher Art. Doch im Text der Vorlesung selbst werden Rückverweise nicht auf einen „Band“ (volumen), sondern auf einen Traktat (tractatus) De necessitate fatali gemacht.[ix] Weiters bestätigt eine andere frühe Kopie des Genesiskommentars die Existenz eines Tractatus de necessitate fatali.

Cod. 4830 der ÖNB ist eine in mehrfacher Hinsicht interessante Handschrift. Hier, auf fol. 2v ist das letzte Zitat aus der Genesis noch als „unser Text“ bezeichnet: “De hoc in textu nostro […] Sudore vultus tui vesceris […] et in cinerem reverteris.” Der Tractatulus de somniis fängt auf fol. 26r an; der Tractatus de necessitate fatali auf fol 121r. Auf dem Titelschildchen des Einbandes – die Handschrift gehörte der Rosenburse, der zweitgrößten Bibliothek der frühen Universität nach der des Collegium ducale – wird nur der letztere verzeichnet:

Wien, ÖNB, Cod. 4830, Titelschildchen auf Einband:
“Lectura magistri Hainrici de Hassia tertii capituli Genesis … complectens tractatusque de necessitate fatali folio 121”

Außer diesen Hinweisen kennen wir keine Handschrift, die den Traktat De necessitate fatali – oder den Tractatulus de somniis – überliefern würde. Der Traktat De necessitate fatali selbst ist trotz des gewundenen Aufbaus sehr elaboriert. Präzise Hinweise auf die darin entfalteten Argumente findet man bereits in früheren Bänden des Genesiskommentars. Es ist daher eine plausible Hypothese, dass Langenstein an diesem Traktat schon in seinen Wiener Jahren gearbeitet hat, und ihn in seine späteren Vorlesungen über die Bibel aufgenommen hat. Da der Traktat als Teil des Genesiskommentars eine Überlieferung fand, hatte es keine Bedeutung mehr, frühere Arbeitskopien aufzuheben – sie sind daher nicht überliefert worden.

Neben dieser unwichtigen Hypothese ist es sicher, dass die Auseinandersetzung mit Thomas Bradwardine, die Papst Nikolaus V gekannt und Nikolaus Cusanus berichtet hat, hier und an keiner anderen Stelle des Bibelkommentars von Heinrich von Langenstein die Hauptmotivation bildet. Deren Kontext, der Tractatus de necessitate fatali, ist eine außergewöhnliche Schrift.[x] Er ist nicht nur von faszinierender historischer Reichweite und von einer in scholastischen Texten seltenen rhetorischen Kraft; er überrascht vor allem mit seiner philosophischen Originalität. Der Tractatus de necessitate fatali ist zweifellos ein wichtiger neuer Text für die deutsche Philosophie des Mittelalters.


[i] Bernkastel an der Mosel, Hospital zu Cues, MS 93, fol. 164v. Nur der erste Vermerk, der unmittelbar nach Textende steht, ist in der Hand des Nicolaus Cusanus geschrieben. Er hat bereits das Interesse der Forschung, wohl nur vorläufig, erweckt: P. Moffitt Watts, Nicolaus Cusanus. A Fifteenth-Century Vision of Man, Leiden: Brill, 1982, 17, n. 29; C. Bianca, ‘Niccolò Cusano e la sua biblioteca: note, ‘notabilia’, glosse’, in E. Canone (Hrsg.), Bibliothecae selectae da Cusano a Leopardi, Firenze: Leo S. Olschki, 1993, 7–9. Tommaso Parentucelli weilte zum Reichstag in September-Oktober 1446 in Frankfurt; die Notiz von Cusanus ist nach seiner Wahl zum Papst am 6.3.1447 entstanden: E. Meuthen (Hrsg.), Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Cusanus, Hamburg: Felix Meiner, 1983, Bd. I Lieferung 2, 537.

[ii] Zu den verschiedenen Versionen und der handschriftlichen Überlieferung des De causa Dei in Österreich siehe E. A. Lukács, ‘Die Handschriften von Thomas Bradwardines Traktat De causa Dei in Österreich’, Codices manuscripti & impressi 99/100 (2015): 3–10. Als Tommaso Parentucelli in Rom zum Papst gewählt wurde, besaß er in seiner Bibliothek gleich zwei Handschriften von Bradwardines De causa Dei, von denen die eine, Vat. lat. 1038, vorher Papst Gregor XII und Papst Eugen IV gehört hatte. Nikolaus V war also der dritte Papst in der Reihe von Päpsten, die Thomas Bradwardine lasen. Nikolaus’ V. eigenes Exemplar von De causa Dei ist in Vat. lat. 1040 enthalten: A. Manfredi, I codici latini di Niccolò V. Edizione degli inventari e identificazione dei manoscritti, Città del Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, 1994, 278-279, 302.

[iii] Ein weiteres, wichtiges Element des westeuropäischen Einflusses von Langenstein bildet die Handschrift Gießen, Universitätsbibliothek, Cod. 779, die von Gabriel Biel, einst Mitglied der Butzbacher Gemeinde, annotiert wurde: J. Ott, Die Handschriften des ehemaligen Fraterherrenstifts St. Markus zu Butzbach in der Universitätsbibliothek Gießen, Gießen: Universitätsbiblithek Gießen, 2004, Bd. II, 155.

[iv] Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum, Wien: Academia Caesarea Vindobonensis, 1869 (Ndr. Graz 1965) Bd. III. Der irreführende Titel im Katalog der ÖNB, der lange daran glauben ließ, dass diese Handschriften nicht zur Genesisauslegung gehören, deutet richtig auf den Inhalt der philosophischen Beschäftigung von Langenstein und ihre Nähe zur Theodizee von Leibniz hin. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprunge des Bösen,Berlin: Akademie Verlag, 1996.

[v] Zu diesen siehe K. Fostyak, ʻAusgewählte Gesamtausgaben des Genesiskommentars des Heinrich von Langenstein († 1397)ʼ, online Veröffentlichung des FWF Projekts P31893 https://langenstein.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_langenstein/Ausgewaehlte_Gesamtausgaben_des_Genesiskommentars__Heinrich_von_Langenstein_-_Aufbau_und_Gliederung_anhand_ausfuehrlicher_Incipit-_und_Explicitlisten.pdf (12.3.2021).

[vi] Zu Cod. 4718 und anderen autographen Handschriften des Genesiskommentars siehe M. Shank, ʻAcademic Benefices and German Universities during the Great Schismʼ, Codices manuscripti 7 (1981): 33-47.

[vii] Die von Thomas Hohmann etablierte Liste von Langensteins Werken dient immer noch als Referenz: Th. Hohmann, ʻInitienregister der Werke Heinrichs von Langensteinʼ, Traditio 32 (1976): 399-426. Neues zum Schrifttum von Langenstein wurde zuletzt mit der Zuschreibung von vier Predigten an Langenstein geliefert: F. P. Knapp, ‘Die ältesten aus dem deutschen Sprachraum erhaltenen Judenbekehrungspredigten’, MIÖG 109 (2001): 105-117 (auch hier spielt Wien, ÖNB, Cod. 4830 eine bedeutende Rolle); und zu Langensteins Pariser Zeit: M. Brînzei und Ch. Schabel, ʻHenry of Langensteinʼs Principium on the Sentences, His Fellow Parisian Bachelors, and the Academic Year 1372-73ʼ, Vivarium 58 (2020): 335-346.

[viii] Basel, Universitätsbibliothek, A-X-44, fols. 86r-87r überliefert Ausschnitte aus diesem kurzen, spannenden Traktat – bzw. dem Genesiskommentar – von Heinrich von Langenstein. Zu dieser Handschrift siehe das RISE Projekt, das eine online zugängliche Transkription des ganzen Codex vorbereitet: https://rise-ubb.com/ (14.3.2021).

[ix] “[…] ut superius circa principium huius tractatus de necessitate fatali ostensum fuit.” In der online zugänglichen Kopie aus dem Benediktinerstift in Mondsee, ÖNB, Cod. 3902, findet sich dieser Hinweis auf fol 224rb: https://digital.onb.ac.at/RepViewer/viewer.faces?doc=DTL_7892639&order=1&view=SINGLE (14.3.2021).

[x] Mehr zur Struktur und Thesen im Traktat von Heinrich von Langenstein folgt in E.A. Lukács, Divine Knowledge, the Bible, and the Sentences at the University of Vienna (1384-ca. 1420), in Vorbereitung. Dieser Iter Austriacum Beitrag ist aus Forschungen zum FWF Projekt V356-G19 „Oxforder Theologie an der Universität Wien“ entstanden.

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