Eine Heilmittelkompilation aus der Historia naturalis des Plinius? – Zu Marginalien in ÖNB Cod. 9-10

In der noch bis 21. Februar laufenden Ausstellung „Goldene Zeiten. Meisterwerke der Buchkunst von der Gotik bis zur Renaissance“ im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek wird als ein mögliches Beispiel für den frühen habsburgischen Buchbesitz ein Teil des heute zweibändigen Plinius-Codex ÖNB cod. 9-10 gezeigt (Cod. 9; Cod. 10). Die Handschrift entstand im 12. Jahrhundert vielleicht im Stift St. Blasien im Schwarzwald. Eine eindeutige Zuordnung ist jedoch aufgrund der wenigen erhaltenen Handschriften des Klosters bisher nicht gelungen[1]. Sowohl das ursprünglich ÖNB Cod. 9 vorgebundene Nekrologfragment des Stiftes[2] als auch ein Besitzvermerk auf fol. 1r weisen aber jedenfalls auf eine Bibliotheksheimat St. Blasien hin. Laut demselben Eintrag verborgte das Kloster im Jahr 1278 die Handschrift an Rudolf von Habsburg-Laufenburg, der zwischen 1274 und 1293 Bischof von Konstanz war (siehe Abbildung)[3]. Die weitere Geschichte des Codex, der vielleicht nicht mehr an das Stift zurückgegeben wurde und im frühen 17. Jahrhundert zum ersten Mal in der Hofbibliothek nachgewiesen werden kann, ist bisher noch nicht im Detail bekannt. Er wird jedoch vorsichtig zum frühen Buchbesitz der Habsburger gezählt[4]. Als Hinweis darauf wird, neben der Tatsache, dass der Konstanzer Bischof ein Vetter König Rudolfs I. war, vor allem der Eintrag A E I o auf fol. 231r von ÖNB Cod. 10 angesehen (neue Folierung fol. 42r; siehe Abbildung). Diese Buchstabenfolge wird als unvollständige Devise Kaiser Friedrichs III. gedeutet, wie sie in ihrer vollständigen Form A E I O U in Handschriften aus seinem Besitz zu finden ist[5]. Die Form der Ausführung, wie auch die Anbringung an wenig prominenter Stelle mitten in der Handschrift, lässt allerdings trotz Ähnlichkeiten in den Buchstabenformen gewisse Zweifel an der Zuweisung aufkommen[6].

Während Provenienz und Buchschmuck der prächtig ausgestatten Handschrift immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen waren, haben die Marginalien bisher wenig Beachtung gefunden. Unter diesen sei hier nun eine Gruppe herausgegriffen, die offensichtlich auf die Erstellung eines Exzerptes abzielte. An verschiedenen Stellen finden sich Eintragungen eines Lesers, der um 1300 (?) einen Kopisten anweist, genau definierte Stellen der Handschrift abzuschreiben. Der Beginn der zu kopierenden Stelle wird mit scribe oder scribe hic gekennzeichnet, ihr Ende jeweils mit usque huc (siehe Abbildung). Eine erste grobe Durchsicht der markierten Textstellen zeigt, dass das Interesse des Lesers wohl vor allem bei pflanzlichen und tierischen Heilmitteln lag. Die Vermerke gruppieren sich in den Büchern 23 bis 31 der Historia naturalis, die den medizinischen Eigenschaften verschiedener Pflanzen und Tierprodukte gewidmet sind. So interessieren etwa die Heilkräfte von Salbei, Weide oder Haarstrang, aber auch gewisse Anwendungsmöglichkeiten von Muttermilch, Knochenmark oder Tiergalle. Während im Bereich der Pflanzen meist das gesamte, oft nur kurze, Kapitel des Pliniustextes kopiert werden soll, scheint bei den Tierprodukten die Auswahl spezifischer. Im umfangreichen Kapitel zur medizinischen Anwendung von Fett (lib. XXVIII c. 37) wird etwa speziell ein Rezept gegen Krätze markiert.

Noch völlig unklar ist, wer diese Exzerpte wofür anfertigen ließ. Die möglichen Ansatzpunkte sind breit gestreut. Zählen z.B. die Pflanzen zu den typischen Vertretern im mitteleuropäischen Klima bzw. im mittelalterlichen Garten? Werden Heilmittel gegen bestimmte Krankheiten besonders häufig exzerpiert? Steht der Praxisbezug oder das gelehrte Interesse im Vordergrund? Lassen sich Rückschlüsse auf die Person des Lesers und sein Umfeld finden? Erst eine genauere Analyse aller Einträge kann hier vielleicht den Hintergrund näher beleuchten.

Die erste Durchsicht scheint jedenfalls auf ein Exzerpieren zum praktischen medizinischen Gebrauch hinzudeuten. Im Kapitel über die Verwendung der Tiergalle (lib. XXVIII c. 40) werden zwar alle Anwendungen der Galle übernommen, die abschließenden Informationen über römische Opferpriester und dass es ihnen verboten war, Pferde zu berühren, wird aber ausgelassen. Sie war jedenfalls zum Zeitpunkt der Exzerpierung nur noch von gelehrtem Interesse.

Vorsicht vor Überinterpretation ist natürlich bei allen Rückschlüssen auf die Person des Lesers geboten. So könnte man bei unbefangener Lektüre vermuten, dass er sich in einer Krise seines Liebeslebens befunden hätte. Der Schreiber wird nämlich angewiesen, ein Rezept zum Erwecken der Liebeslust zu kopieren, das ein Einreiben mit Sand, in dem sich ein weibliches Maultier gewälzt hat, vorschreibt. Nach diesem ersten Schritt muss offensichtlich auch die Geburt eines Nachkommen gesichert werden. Auch hier hilft Plinius: Dieser rät, während des Geschlechtsakts Haare, die einem weiblichen Maultier während der Begattung durch einen Hengst entrissen wurden, zu verknoten, um eine Frau, auch gegen ihren Willen, zu schwängern. Bei Erfolg lässt sich das Verlangen nach dem anderen Geschlecht dann mit einem weiteren, ebenfalls kopierten, Rezept stillen (alle Exzerpte aus lib. 30). Man hofft angesichts der Interessenslage beinahe, dass die Exzerpte nicht im klerikalen Umfeld entstanden!

Diese kleine Analyse, die natürlich mehr der Erheiterung als der wissenschaftlichen Forschung dient, soll einen kleinen Einblick in die Verwendung der Pliniushandschrift bieten. Für die Geschichte der Hofbibliothek birgt die genaue Auswertung der Marginalien die geringe Hoffnung, einen weiteren Provenienzhinweis zu gewinnen. Der Fund einer Handschrift mit genau diesen Pliniusexzerpten oder Hinweise zu Person und Umfeld des Exzerptors könnten helfen, die Verbindung des Habsburgischen Hauses zu ÖNB Cod. 9-10 entweder zu stärken oder zu verwerfen.

[1] Den besten Überblick gibt Hubert HOUBEN, St. Blasianer Handschriften des 11. und 12. Jahrhunderts. Unter besonderer Berücksichtigung der Ochsenhauser Klosterbibliothek (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 30, München 1979), 45-48 zur Handschrift.

[2] Hubert HOUBEN, Das Fragment des Necrologs von St. Blasien. (Hs. Wien, ÖNB Cod. lat. 9, fol. I-IV). Facsimile, Einleitung und Register. Frühmittelalterliche Studien 14 (1980) 274-298.

[3] zu Rudolf von Habsburg B. v. Konstanz siehe den Eintrag von Veronika FELLER-VEST in Historisches Lexikon der Schweiz http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D12663.php

[4] Die Signatur des zweiten Bibliothekars der Bibliothek, Sebastian Tengnagel, ist von der Hand Peter Lambecks auf fol. 1r in Cod. 9 eingetragen. Vgl. zur Geschichte der Handschrift Julius H. HERMANN, Die deutschen romanischen Handschriften (Beschreibendes Verzeichnis der illuminierten Handschriften in Österreich VIII/2, Leipzig 1926) 47f und HOUBEN, St. Blasianer Handschriften (wie Anm. 1) 46f.

[5] Zu „Devise“ siehe v. a. Alfons LHOTSKY, A.E.I.O.U. Die „Devise“ Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, in: DERS., Aufsätze und Vorträge II: Das Haus Habsburg, hg. von Hans WAGNER und Heinrich KOLLER (Wien 1971) 164-222. Ein Überblick zur Forschungsgeschichte mit weiterer Literatur bei Heinrich KOLLER, Zur Bedeutung des Vokalspiels AEIOU. Österreich in Geschichte und Literatur 39/3 (1995) 162-170.

[6] Andreas FINGERANGEL, Friedrich III. und das Habsburgische Erbe, in: Goldene Zeiten. Meisterwerke der Buchkunst von der Gotik bis zur Renaissance. Katalogband zur Ausstellung in der Österreichischen Nationalbibliothek vom 20. November 2015 bis 21. Februar 2016, hg. von Andreas FINGERNAGEL (Wien 2015), 43-47, hier 46.

Besitzvermerk des Klosters St. Blasien mit Verleihvermerk an Bischof Rudolf von Konstanz von 1278.

ÖNB cod. 9 fol. 1r: Besitz- und Verleihvermerk des Klosters St. Blasien

ÖNB Cod. 10 fol. 231r (42r): Unvollständige Devise Friedrichs III.

ÖNB Cod. 10 fol. 231r (42r): Unvollständige Devise Friedrichs III.

ÖNB Cod. 20 fol. 220v (39v): Beispiel für eine Kopieranweisung

ÖNB Cod. 20 fol. 220v (39v): Beispiel für eine Kopieranweisung am linken Rand

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