Konrad von Mure in Linz

Konrad von Mure, geboren im frühen 13. Jahrhundert im schweizerischen Muri und wahrscheinlich im dortigen Benediktinerkloster erzogen (ein Studium in Bologna und Paris wird vermutet, ist aber nicht sicher zu beweisen), war seit 1244 als Schulmeister, seit 1259 auch als Kantor am Großmünster in Zürich tätig. Bis zu seinem Tod 1281 verfasste er eine beachtliche Anzahl von Werken (viele davon in Versen), von denen allerdings nur wenige vollständig erhalten geblieben sind[1]. Eine von ihm selbst zusammengestellte Liste seiner metrischen Werke im Epilog seines Fabularius nennt an erster Stelle Nouus Grecismus habet circiter decem milia quingentos sexaginta uersus[2] – ein umfangreiches, am Grecismus des Eberhard von Béthune anknüpfendes, ihn inhaltlich aber weit überschreitendes Lehrgedicht in Hexametern, dessen Abfassung in Zusammenhang mit Konrads Tätigkeit als Schulmeister zu sehen ist. Gegenwärtig sind Überlieferungen in 14 Handschriften bekannt (die allerdings nicht alle den vollständigen Text enthalten), von denen 12 für die Erstellung der kritischen Edition herangezogen wurden[3]. Dem Herausgeber unbekannt war allerdings ein Fragment einer Handschrift, das sich in der Oberösterreichischen Landesbibliothek in Linz befindet.

Cod. 589 der Oberösterreichischen Landesbibliothek besteht aus einem Pergamentblatt, das als Einband eines Druckes (zu diesem siehe weiter unten) verwendet und im August 1909 abgelöst worden ist. Das Blatt ist etwa 220 mm hoch und 165 mm breit; beide Seiten sind jeweils in zwei Spalten zu je 41 Zeilen beschriftet. Gegenüber seiner ursprünglichen Größe dürfte das Blatt nur unwesentlich beschnitten sein; Textverlust ist jedenfalls keiner festzustellen. Die Schrift ist auf der zum Buch gekehrt gewesenen Seite recht gut lesbar, während sie auf der Außenseite des Blattes, vor allem im Bereich des ehemaligen Rückens, durch Abrieb mitunter nur schwach erkennbar ist. Die Schrift des Blattes ist eine einfache Textualis wohl des frühen 14. Jahrhunderts. Am oberen Rand hat eine frühneuzeitliche Hand eine Spaltenzählung (noch erkennbar sind die Zahlen 260 bis 262) eingetragen.

Auf einem beiliegenden Papierblatt wird der Text als „Bruchstück eines Gedichtes mythologischen Inhaltes in Hexametern, lateinisch“ beschrieben. Tatsächlich handelt es sich um ein Stück der ausführlichen Genealogie der heidnischen Götter, die Konrad in den Novus Grecismus aufgenommen hat. Der Text umfasst die Zeilen 1009 bis 1164 des neunten Buches von Konrads Werk[4] und weist keine wesentlichen Varianten zum Text der Edition auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Handschriften finden sich keine Interlinear- und Marginalglossen. Für die sichere Identifizierung des Textes ist es hilfreich, dass der Schluss des genealogischen Gedichts und die daran anschließende Behandlung der Dreizahl auf dem Fragment enthalten ist. Die Göttergenealogie allein hat Konrad nämlich noch einmal in seinem Fabularius verwendet[5]; überdies ist sie in einer Reihe von Handschriften eigenständig überliefert[6].

Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 589 verso (Konrad von Mure, Novus Grecismus IX, 1089-1169)

Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek, Cod. 589 verso (Konrad von Mure, Novus Grecismus IX, 1089-1169)

Der Druck, als dessen Einband das Fragment gedient hat, ist ein 1649 in München erschienenes polemisches Werk des italienischen Jesuiten Alberto Alberti (1593-1676)[7]. Das Exemplar der Oberösterreichischen Landesbibliothek[8] stammt aus dem Besitz des Benediktinerstifts Garsten bei Steyr, wie aus einem auf dem Titelblatt eingetragenen Besitzvermerk des 17. oder frühen 18. Jahrhunderts hervorgeht.

Alberto Alberti, Generales Vindiciae. Titelblatt mit Garstener Besitzvermerk (Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek I-61511)

Alberto Alberti, Generales Vindiciae. Titelblatt mit Garstener Besitzvermerk (Linz, Oberösterreichische Landesbibliothek I-61511)

Die auf dem Makulaturblatt erkennbare frühneuzeitliche Spaltenzählung lässt vermuten, dass die Handschrift des Novus Grecismus im 16. Jahrhundert jedenfalls noch intakt gewesen ist. Ein ungefährer Terminus ante quem für die Makulierung ist das Erscheinungsjahr des Druckes 1649. Ob Konrads Novus Grecismus Bestandteil der mittelalterlichen Garstener Bibliothek war oder das Makulaturblatt aus einer anderen Quelle stammt, ist gegenwärtig nicht zu klären[9].

Update 8.8.2016: Inzwischen hat die Oberösterreichische Landesbibliothek das Blatt digitalisiert; es ist unter diesem Link zu finden.

[1] Knappe Überblicke über Biographie, Werke und Überlieferung: Erich Kleinschmidt, Art. „Konrad von Mure“, in: Verfasserlexikon 2. Aufl. Bd. 5 (Berlin / New York 1985) Sp. 236-244, Nachtrag Bd. 11 (Berlin / New York 2004) Sp. 879; Christian Folini, Art. „Konrad von Mure“, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online-Version (Stand 28.10.2008, besucht 26.12.2015); Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“, Conradus de Mure [Stand 6.9.2012, besucht 26.12.2015]; zuletzt Tom van de Loo, Mittelalterliche Gelehrsamkeit im Zürich des 13. Jahrhunderts: der Enzyklopädist und Mythograph Konrad von Mure im Lichte der neueren Forschung, in: Mittellateinisches Jahrbuch 50 (2015) 123-136.

[2] Conradi de Mure Fabularius, ed. Tom van de Loo (CCCM 210, Turnhout 2006) 548 Z. 40f.

[3] Konrad von Mure, Novus Grecismus. Auf der Grundlage aller vorhandenen Handschriften erstmals herausgegeben, eingeleitet und mit Register versehen von Alexandru N. Cizek (Münstersche Mittelalter-Schriften 81, München 2009), kurze Beschreibung der Handschriften p. lxxxii-lxxxviii.

[4] Novus Grecismus, ed. Cizek 307-312.

[5] Konrad von Mure, Fabularius, ed. van de Loo 27-48.

[6] Iane biceps qui clusius atque patulcius idem … – … Est Anthoninus successor in ordine regum. Vgl. Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtung. Unter Benützung der Vorarbeiten Alfons Hilkas bearbeitet von Hans Walther (Carmina Medii Aevi Posterioris Latina I, Göttingen 1959; Nachträge und Berichtigungen 1969) Nr. 9769. Folgende Überlieferungen sind mir derzeit bekannt: Budapest, Országos Széchényi Könyvtár Cod. lat. 423 (bis 1919 Wien, Hofbibliothek Cod. 109) f. 1r-9v; Oxford, Bodleian Library, Bodl. Ms. 292, f. 148va-149vb (unvollständig); München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 6722 und 24505; Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire Cod. 88 (85) f. 2r-12v; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 250, f. 1r-11r (digitalisiert).

[7] Generales Vindiciae, Adversus Famosos Gasparis Scioppii Libellos, Societati Jesu, Ab Alberto De Albertis, Ex Eadem Societate, … Datae (Monachii: Straubius [Lukas Straub], 1649). 571 Bl., 12o. VD17 12:114255M [27.12.2015]. Ein Digitalisat des Exemplars der Bayerischen Staatsbibliothek gibt es hier [27.12.2015].

[8] Signatur I-61511.

[9] Zur Geschichte der Garstener Bibliothek vgl. Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs, Bd. 5: Oberösterreich. Bearb. v. Herbert Paulhart (Wien / Köln / Graz 1971) 19-24. Abgesehen von einer Bücherschenkung des Abtes Otto von Garsten 1331 ist aus dem Kloster keine mittelalterliche Bücherliste bekannt.

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