Abgewaschen und abgeschabt – neue Messungen an den Scythica Vindobonensia

Palimpseste faszinieren Laien wie Experten gleichermaßen. Schon der Verdacht, dass sich noch unbekannte Werke in diesen zweitverwendeten Pergamenten finden lassen, motiviert Forscher stundenlang mit UV-Lampen über einzelnen Wörtern zu brüten. Durch den immer rascheren Technologiefortschritt konnte die Lesbarkeit von Palimpsesten in den letzten Jahren deutlich verbessert werden. Besonders bei stark abgeriebenen Blättern kann die richtige Aufnahme- und Bearbeitungstechnik kaum entzifferbaren Textspuren in fast vollständig lesbare Worte verwandeln.

Mit dieser Entwicklung gerieten auch die griechischen Palimpseste der ÖNB wieder stärker in den Fokus. Große Verdienste haben sich dabei, in Nachfolge von Herbert Hunger, vor allem Otto Kresten und Jana Grusková erworben, die sich in zwei laufenden, vom österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung finanzierten Projekten diesem Thema widmen[1]. Neben einem Überblick über die vorhandenen Palimpseste und multispektralen Neuaufnahmen der entsprechenden Seiten, stehen in einem von Fritz Mitthof geleiteten Projekt vor allem zwei Doppelblätter in ÖNB Cod. Hist. gr. 73 im Mittelpunkt, die einen Abschnitt der bislang verloren geglaubten Skythika des Dexippos überliefern.

Der Hauptteil der Trägerhandschrift Cod. Hist. gr. 73 stammt aus dem 10. Jahrhundert und enthält die Constitutiones Apostolorum auf nicht-palimpsestierten Blättern (fol. 1-184v). Diesem Buchblock hinzugefügt wurden zwei eigenständige kodikologische Einheiten des 13. Jahrhunderts, die beide jeweils Pergament aus älteren Handschriften wiederverwenden. Deutlich zu sehen ist dies in der ersten Einheit fol. 188r-191v, wo schon ein flüchtiger Blick Teile eines palimpsestierten Menologiums aus dem 11. Jahrhundert erkennen lässt. Dementsprechend konnte schon Herbert Hunger dieses Palimpsest in seinen Handschriftenkatalog aufnehmen und einen der Texte, die abgebildeten Acta Cypriani et Justinae, identifizieren.

Cod. hist. gr. 73, fol. 188r: Palimpsest der Acta Cypriani et Justinae

Cod. hist. gr. 73, fol. 188r: Palimpsest der Acta Cypriani et Justinae

Von wesentlich größerem Interesse ist jedoch der zweite Palimpsestteil fol. 192-195, auf dem das ungeübte Auge bei raschem Hinblicken zunächst gar keine abgeschabte Schrift zu erkennen vermag. Deutlich tritt nur der Obertext hervor, ein Exzerpt aus Theodoros Studites mit angehängten Gebeten. Selbst auf den weitgehend unbeschriebenen Seiten 195rv zeichnet sich die untere Schrift nur in schwachem Braun ab. Herbert Hunger ließ von Teilen dieser Blättern UV-Aufnahmen anfertigen (wahrscheinlich um 1960), ohne sich jedoch näher mit dem Text zu beschäftigen oder ihn zu identifizieren. Erst 50 Jahre später bei einer intensiven, durch das EU-Projekt „Rinascimento virtuale – Digitale Palimpsestforschung“  initiierten Neuuntersuchung, unter Zuhilfenahme digitaler UV-Aufnahmen der TU Wien und des Teuchos-Zentrums in Hamburg zwischen 2005 und 2008, gelangt es Jana Gruskova, die abgeschabten Blätter den Skythika des Historikers Dexippos aus Athen, einem Text über die Gotenkriege des 3. Jahrhunderts, zuzuweisen[2]. Dieses Werk eines Zeitzeugen und vielleicht Mitkämpfers im Konflikt war zuvor nur fragmentarisch und in indirekter Überlieferung bekannt. Damit ist nicht nur ein verlorenes antikes Werk partiell wiedergewonnen, sondern potentiell auch eine neue Quelle für historische Erkenntnisse aufgetan. Nach ersten Editionsversuchen stellte sich bald heraus, dass mit den verfügbaren UV-Aufnahmen jedoch nur Teile des Textes lesbar gemacht werden konnten[3]. Zur Kooperation an der weiteren Bearbeitung des wichtigen historischen Textes wurde Gunther Martin, ein anerkannter Spezialist für Dexippos, eingeladen[4].

Um besseres Bildmaterial zu erlangen, wurde die Early Manuscripts Electronic Library (EMEL) im Februar 2013 beauftragt, Multispektralaufnahmen der Blätter anzufertigen. Dabei werden digitale Aufnahmen unter Beleuchtung mit Licht verschiedener Wellenlängen gemacht, deren Kombination ein erster Schritt zu einer verbesserten Lesbarkeit ist. Wirkliche Fortschritte bringen erst die intensiven Bearbeitungen der Bilder durch Image Scientists, die durch die von ihnen eingesetzen Algorithmen die relevanten Teile der Seite stärker hervortreten lassen können[5]. Auf diese Weise konnten etwa 60% des Textes der Scythica erfasst werden[6]. Wesentliche Passagen blieben jedoch aus verschiedenen Gründen, etwa wegen der unterschiedlichen Beschaffenheit des Pergaments oder der stark abgewaschenen und vor allem auf den Haarseiten sehr schlecht lesbaren unteren Schrift, weiterhin verborgen.

Digitalbild: Cod. hist. gr. 73, fol. 195v: Palimpsestierte, aber nicht wiederbeschriebene Seite. Neuzeitlicher Eintrag zum Kauf der Handschrift durch Ogier Ghiselin de Busbecq (1522-1592)

Digitalbild von Cod. hist. gr. 73, fol. 195v: Palimpsestierte, aber nicht wiederbeschriebene Seite. Neuzeitlicher Eintrag zum Kauf der Handschrift durch Ogier Ghiselin de Busbecq (1522-1592)

Multispektralaufnahme (Spectral imaging by the Early Manuscripts Electronic Library. Processed image by Roger Easton. © Project FWF P 24523-G19)

Multispektralaufnahme von Cod. hist. gr. 73 fol. 195v. Spectral imaging by the Early Manuscripts Electronic Library. Processed image by Roger Easton. © Project FWF P 24523-G19.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es war also naheliegen, diesem so bedeutenden Palimpsest ein weiteres Projekt zur Entzifferung, Bearbeitung und Verfügbarmachung zu widmen. In den Jahren 2015-2018 finanziert nun der österreichischen Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung das Unternehmen Scythica Vindobonensia (FWF P 28112-G25) und damit auch neue und innovative Ansätze zur Untersuchung des Untertextes. Neben weiteren optischen Aufnahmen mit verbesserter Kamera und Beleuchtung soll die Sichtbarmachung des Textes durch physikalische Methoden versucht werden.

Cod. hist. gr. 73 wurde dazu nach Berlin in die Labore des Fachbereichs Kunst- und Kulturgutanalyse der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) gebracht. Dort arbeiten Oliver Hahn und Ira Rabin intensiv mit Handschriftenforschern zusammen, um mit zerstörungsfreien naturwissenschaftlichen Methoden die Kenntnis der Buchproduktion in Asien, Afrika und Europa zu vertiefen[7]. Das Ziel war zunächst, zu überprüfen, ob die Tintenzusammensetzung der abgewaschenen unteren Tinte bestimmt werden kann und diese Daten zu verwenden, um genauere Kenntnisse über die ursprüngliche Handschrift zu erlangen.

Die Methode beruht auf den auch in der Handschriftenkunde gut eingeführten Röntgenfluoreszenzmessungen (RFA), die es ermöglichen „Fingerabdrücke“ der häufig verwendeten Eisengallustinten hinsichtlich ihres Gehalts an Kupfer, Blei oder anderen Atomen höherer Ordnungszahlen im Verhältnis zu Eisen anzufertigen. Während dies für die gut sichtbaren Obertinten vor allem genutzt wurde, um die Tinten des Haupttextes mit Nachträgen und Besitzvermerken zu vergleichen, war eine direkte Untersuchung der Untertinten schwierig. Durch die Palimpsestierung wurde die Tinte zum größten Teil ganz abgetragen. Ein hoher Anteil an Eisen im Pergament weist auf eine Dislozierung der Tintenbestandteile und eine Verteilung auf die umliegende Pergamentoberfläche hin. Damit wurde die Gewinnung eines genauen Fingerprints der Untertinte unmöglich gemacht.

Diese Einzelpunktuntersuchungen waren jedoch nur der erste Schritt im Messprogramm. An der BAM besteht darüber hinaus die in Österreich noch nicht vorhandene Möglichkeit, einen Scan mit RFA Messungen durchzuführen.  Dabei werden automatisch Punkt um Punkt und Reihe um Reihe Messungen angefertigt, die in Kombination eine zweidimensionale Darstellung des Signals verschiedener Element auf einer kleinen Fläche ermöglichen. Es lassen sich damit viele RFA Messungen auf einen Blick erfassen und ihre Abgrenzungen gegenüber Nachbarpunkten darstellen. Damit nimmt die Schrift Kontur an und bisher nicht klar lesbare Buchstaben der Unterschrift werden differenzierbar. RFA Scans der Scythica-Blätter wurden in Berlin mit einem XRF Imaging spectrometer (JET Stream) aufgenommen. Das Ziel war die Beantwortung der Frage, ob und in wieweit diese Technik zur weiteren Entzifferung des getilgten Textes beitragen kann.

Cod. hist. gr. 73 wird für das XRF Imaging vorbereitet

Cod. hist. gr. 73 wird für das XRF Imaging vorbereitet

Probeaufnahme von ÖNB Cod. hist. gr. 73 fol. 195r, Z. 1 mit dem XRF-Imaging spectrometer der BAM

Probeaufnahme von ÖNB Cod. hist. gr. 73 fol. 195r, Z. 1 mit dem XRF-Imaging spectrometer der BAM

Die erhaltenen Daten, die die gemessenen Elemente an jedem Punkt beinhalten, lassen sich als Bilder darstellen, in denen nur die jeweils gewünschten Elemente oder eine Kombination daraus gezeigt werden. So kann eine für die optische Weiterverarbeitung zur Textidentifizierung günstige Abbildungsvariante herausarbeitet werden. Für Cod. hist. gr. 73 zeigte es sich, dass nicht die Metalle der Tinte die beste Lesbarkeit boten, sondern das Abbild der ehemaligen Schrift im Signal von Kalzium. Dies ist vielleicht durch die Behandlung des Pergaments vor der erneuten Beschreibung erklärbar, bei der sich Kalzium am Ort der abgewaschenen Buchstaben verstärkt anlagerte. Damit würde also das Signal der Wirkung der abgewaschenen Tinte auf die Nachbearbeitung des Pergaments und nicht die Tinte selbst gemessen, die zu gründlich entfernt worden war.

Nach ersten Scans kleiner Textstellen, die jeweils einige Stunden dauerten, zeigte es sich schließlich, dass sich bei dem gegebenen Ausmaß der noch vorhandenen Tintenbestandteile/-spuren nur bei einer Aufnahme von ganz kleinen Textstellen (von ca. 10 Buchstaben) mit einer sehr hohen Auflösung nach ca. 16–17 Stunden Bestrahlung ein bezüglich der Lesbarkeit aussagekräftiges RFA Abbild der unteren Schrift gewinnen lässt. Tatsächlich ist es in diesem Testlauf gelungen, zwei sehr kleine, für die richtige Interpretation des historischen Textes auf der betreffenden Seite jedoch sehr wichtige strittige Stellen zu verbessern und so den lesbaren Buchstabenbestand des Textes zu erweitern[8]. Durch die RFA-Scans konnte nun auch ein qualitativer Eindruck der Elemente in Tinte und Pergament über eine Fläche von mehreren Quadratzentimetern gewonnen werden (s. das Bild oben). Diese Ergebnisse bieten die Grundlage für weiterführende Untersuchungen des Palimpsests und stehen auch für die Auswertung der Multispektralbilder zur Verfügung.

Da inzwischen (seit Februar 2013) auch die Ausrüstung für Multispektralaufnahmen und die Methoden der Bildverarbeitung zur Lesbarmachung getilgter Texte bei EMEL verbessert wurden[9], wurde im Juli 2016 der Scythica-Text noch einmal vom EMEL-Team unter Leitung von Michael Phelps mit Ken Boydston und Damianos Kasotakis sowie Imaging Scientists (siehe unten) mit Licht mehrere Wellenlängen im optischen, infraroten und UV-Bereich photographiert. Für die Aufnahmen mit einer von Ken Boydston entwickelten Spezialkamera (Megavision) wurde erstmals ein neu entwickeltes Lichtsystem, das eine noch größere Auswahl an Wellenlängenbereichen bietet, an einem Palimpsest getestet. Augenmerk wurde dabei auch auf möglichst  hoch auflösende Detailaufnahmen der bisher noch nicht gelesenen bzw. nur sehr schwer lesbaren (darunter besonders der textlich bedeutendsten) Textstellen gelegt.

Aufbau für Multispektralaufnahmen in der ÖNB (Juli 2016).

Aufbau für Multispektralaufnahmen in der ÖNB (Juli 2016).

Im Moment werden sowohl die Ergebnisse der RFA Untersuchungen in Berlin, als auch die neuen Multispektralaufnahmen detailliert ausgewertet. Zunächst führen die mit EMEL zusammenarbeitenden Image Scientists Roger L. Easton, Keith Knox und Dave Kelbe eine erste Phase intensiver Bildverarbeitung durch. Diese Erstversionen der verarbeiteten Multispektralaufnahmen werden von den Editoren ausgewertet, um die vorhandenen Transkriptionen zu verbessern. Dabei werden mit Bildbearbeitungsprogrammen verschiedene Darstellungsmöglichkeiten durchprobiert, um einzelne Buchstaben herauszuarbeiten. Aufgrund des Ergebnisses wird ein Feedback an die Image Scientists gesendet, die sich dann verbleibenden problematischen Stellen weiter widmen können.  In einem langandauernden Prozess im ständigen Austausch zwischen Philologen und Image Scientists wird so eine neue Edition erarbeitet.  Erste Erkenntnisse zum Text, die durch diese neuen Messungen und Digitalisierungen in Berlin und Wien gewonnen werden konnten, werden jedoch bereits für die Internationale Konferenz „Empire in Crisis: Gothic invasions and Roman Historiography“ erwartet, die im Rahmen des Projekts Sythica Vindobonensia im Mai 2017 in Wien stattfinden wird.

[1] Scythica Vindobonensia (Leiter: Fritz Mitthof) http://www.oeaw.ac.at/imafo/die-abteilungen/byzanzforschung/language-cultural-heritage/buchkultur/scythica-vindobonensia/scythica-vindobonensia/

Wichtige Textzeugen in Wiener griechischen Palimpsesten (Leiter Otto Kresten) http://www.oeaw.ac.at/imafo/die-abteilungen/byzanzforschung/language-cultural-heritage/buchkultur/griechische-palimpseste/

[2] Jana Grusková, Untersuchungen zu den griechischen Palimpsesten der Österreichischen Nationalbibliothek. Codices Historici, Codices Philosophici et Philologici, Codices Iuridici (ÖAW Denkschriften 401 = Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 20,. Wien 2010) 50–53.

[3] Gruskova, Untersuchungen, 52f. mit einer Edition von fol. 195r.

[4] Gunther Martin, Dexipp von Athen. Edition, Übersetzung und begleitende Studien (Tübingen 2006).

[5] http://emel-library.org/gallery/vienna-greek-palimpsests/

[6] Literatur: Jana Grusková – Gunther Martin, Zum Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt (Scythica Vindobonensia, f. 195v). Tyche 30 (2015) 35–53; Dies., Ein neues Textstück aus den „Scythica Vindobonensia“ zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis. Tyche 29 (2014), 29–43, online. Gunther Martin – Jana Grusková, Scythica Vindobonensia by Dexippus (?): New Fragments on Decius’ Gothic Wars. Greek, Roman, and Byzantine Studies 54 (2014) 728–754, online. Dies., Dexippus Vindobonensis (?). Ein neues Handschriftenfragment zum sog. Herulereinfall der Jahre 267/268. Wiener Studien 127 (2014), 101–120, online.

[7] In Kooperation mit dem SFB Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa an der Universität Hamburg: https://www.manuscript-cultures.uni-hamburg.de/

[8] J. Gruskova und G. Martin bereiten dazu einen kleinen, ihren letzten Beitrag (Tyche 30, 2015) ergänzenden Aufsatz vor.

[9] Siehe die laufenden Projekte der Gruppe, die im Moment auch Palimpseste im Katharinenkloster (Sinai) bearbeitet: http://emel-library.org/example-project-page1/

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