Der Wiener Hilarius-Papyruscodex

Im Zuge der Vorbereitung für eine Handschriftenpräsentation hatte ich vor einiger Zeit Gelegenheit mich intensiver mit dem sogenannten „Wiener Hilarius“ zu beschäftigen. Die Früchte dieser Beschäftigung sollen nun in einigen Blogeinträgen vorgestellt werden. Den Anfang macht eine kurze Übersicht über die einstige Sammelhandschrift, die heute in mehrere Codices geteilt in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird.

Der als „Wiener Hilarius“ bezeichnete Teil des ursprünglichen Sammelbands ist eine fragmentarische Überlieferung von Hilarius Pictaviensis De Trinitate und des ebenfalls fragmentarischen Traktats Contra Arianos auf Papyrus. In Wien werden heute 101 Blätter und kleine, später erworbene Fragmente dieses Papyruscodex aufbewahrt. Ein weiteres kleines Fragment befindet sich im oberösterreichischen Stift St. Florian, während ein vollständiges Blatt Teil des Fondo Barberini der Biblioteca Apostolica Vaticana ist[1]. Wann die Fragmente aus der Handschrift entfernt wurden, ist bisher nicht geklärt. Der Papyruscodex entstand im 6. Jahrhundert wohl in Süditalien und wurde um die Mitte des Jahrhunderts wahrscheinlich in Aquino durchkorrigiert (siehe das Bild)[2]. Später gelangte die Handschrift in die Bibliothek des Domkapitels von Benevent, wo sie spätestens Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem heutigen Cod. 903 der ÖNB vereint wurde. Sowohl diese in Beneventana geschriebene, unvollständige Abschrift der Paulusbriefe aus der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts, als auch die Papyrushandschrift enthalten Eintragungen des Bibliothekars Luigi Theuli (gest. nach 1450)[3]. Schon damals befanden sich wohl auch die heute als Cod. 1 in der ÖNB aufbewahrten Pergamentfalzstreifen mit Fragmenten aus Plinius und Ulpian aus dem 5. Jahrhundert in der Bindung. In diesem zusammengesetzten Zustand, in dem die Handschrift im späteren 18. Jahrhundert nach Wien kam[4], beschreibt sie der Kustos der Hofbibliothek Michael Denis in seinem 1799 publizierten Katalog[5]. Wie der Pappeinband des frühen 19. Jahrhunderts des Cod. 903 zeigt, wurden der Pergament- und der Papyrusteil der Handschrift nur wenig später getrennt und gleichzeitig wohl auch die Falzstreifen ausgelöst. Dabei ging der von Denis beschriebene alte Einband verloren: „… qui illud rursus inter tabulas ligneas crassas Sec. XIV. compegit, tabulas has interne membranis vestivit Poema quoddam Equestre lingua Gallica continentibus eleganter exaratis. Quoniam vero earum extreme panno holoserico nigricante ita cooperuit, ut Versuum partim initia, partim fines legi nequeant, satis habeo observasse: comparere in iis nomina Marcien le persan, Gadifer, Porrus, Phezonas, sermonemque non semel esse de Pavonibus“. Aus diesen Beobachtungen schließt Denis, dass es sich bei dem nur partiell lesbaren französischen Gedicht um Les Voeux du paon handeln muss.

Tatsächlich findet sich in den Beständen der ÖNB unter der Signatur Cod. Ser. n. 242 ein Fragment dieses Chanson de geste. Erhalten haben sich zwei stark beschnittene Doppelblätter einer in Südfrankreich im 14. Jahrhundert geschriebenen Handschrift[6]. Zwei sekundäre Einträge auf den Blättern deuten darauf hin, dass es sich hiebei um die von Denis beschriebenen Makulaturblätter handelt: Eines der Doppelblätter, heute als fol. 2-3 bezeichnet, trägt auf fol. 2r orthogonal zum französischen Text die Aufschrift „Liber de summa trinitate“. Im Gegensatz zur Beschreibung des Fragments im Handschriftenkatalog handelt sich dabei nicht um einen Rückentitel, da die typischen Beschädigungen und Abreibungen fehlen, die durch die Verwendung als Umschlag üblicherweise entstehen. Vielmehr war das entsprechende Blatt wahrscheinlich aufgefaltet am vorderen Innendeckel aufgeklebt. Die starke Beschädigung von fol. 2v-3r, die den Text beinahe unlesbar macht, deutet jedenfalls auf eine derartige Anbringung hin. An dieser Stelle gab der sekundär eingetragene Titel damit den Inhalt des ersten Teils der ursprünglichen Sammelhandschrift an. Den zweiten, noch deutlicheren Hinweis liefert das Doppelblatt fol. 1 und 4, von dem fol. 1v und fol. 4r stark beschädigt sind. Auf fol. 1r steht ebenfalls orthogonal zum französischen Text der Eintrag „366 pagg.“ Addiert man nun die Blattzahl der Papyrushandschrift Cod. 2160* (101 Bll.) zu der Anzahl der Pergamentblätter von Cod. 903 (82 Bll.) ergibt dies 183 Blätter oder 366 Seiten, was exakt der Angabe in Cod. ser. n. 242 entspricht. Auf diesem Doppelblatt sind überdies Spuren eines alten Einbandes sichtbar.

Die beiden Doppelblätter wurden nach der Ablösung von der Handschrift zunächst in der Fragmentensammlung aufbewahrt, von wo sie 1870 in die Series nova Reihe einsigniert wurden. Die Information über die Trägerhandschrift war, wie so oft, damals schon verloren gegangen. Mit dem Auffinden des Makulaturblattes Cod. Ser. n. 242 ist damit die gesamte ursprünglich in die Hofbibliothek aufgenommene Sammelhandschrift, die neben dem französischen Fragment die lateinischen Handschrift Cod. 1, Cod. 903 und Cod. 2160* umfasste, rekonstruiert. Ob die Zuordnung des Makulaturblattes weitere Hinweise zur mittelalterlichen Geschichte der Handschrift bieten kann, müssen zukünftige Forschungen zeigen.

[1] ÖNB Cod. 2160* (Handschrift und Fragmente in Summe 103 Blatt), Vat. Barb. lat. 9916, Sankt Florian, Stiftsbibliothek, III.15.B.

[2] Lesevermerk „Dulcitius Aquini legebam“, siehe u.a. Jan-Olof TJÄDER, Die nicht literarischen lateinischen Papyri Italiens I (Lund, 1955) 39f, 478 zur Handschrift und zum Namen Dulcitius.

[3] Jean MALLET – André THIBAUT, Les manuscrits en écriture Bénéventaine de la Bibliothèque capitulaire de Bénévent I (Paris 1984) 14.

[4] Zur neuzeitlichen Geschichte der Handschrift siehe bald einen weiteren Blogeintrag. Einen ersten Überblick liefert Rudolf BEER, Monumenta Palaeographica Vindobonensia. Denkmäler der Schreibkunst aus der Handschriftensammlung des Habsburg-Lothringischen Erzhauses. 1. Lieferung (Leipzig 1910) 26-28.

[5] Michael DENIS, Codices Manuscripti Bibliothecae Palatinae Vindobonensis Latini Aliarumque Occidentis Linguarum. Vol. II. Pars I. (Wien 1799) Sp. 1096-1116.

[6] Otto MAZAL und Franz UNTERKIRCHER, Katalog der abendländischen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek: „Series nova“ (Neuerwerbungen), Teil 1: Cod. Ser. n. 1-1600 (Museion N.F. 4/2, 1, Wien 1965) 79.

ÖNB Cod. 2160* fol. 21r mit dem Korrektorvermerk "Dulcitius Aquini legebam"

ÖNB Cod. 2160* fol. 21r mit dem Korrektorvermerk „Dulcitius Aquini legebam“

Cod. ser. n. 242 fol. 1r mit der Angabe "366 pagg."

ÖNB Cod. ser. n. 242 fol. 1r mit der Angabe „366 pagg.“

Cod. ser. n. 242 fol. 2r mit der Aufschrift "Liber de sanctissima trinitate"

ÖNB Cod. ser. n. 242 fol. 2r mit der Aufschrift „Liber de summa trinitate“

 

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Warum Iter Austriacum?

Mit der Wahl des Namens Iter Austriacum knüpft der Blog an die Berichte von Forschungsreisenden des 19. Jahrhunderts an, die – ganz wie es hier online beabsichtigt ist – interessante Funde in Handschriften österreichischer (und anderer) (Stifts)bibliotheken in knapper Form zusammengefasst publizierten. Aus den vielen derartigen Veröffentlichungen seien hier die Bemühungen von Wilhelm Wattenbach [1] herausgegriffen:  Zunächst  suchte er auf seiner „Reise nach Österreich in den Jahren 1847, 1848, 1849“ [2] die Bibliotheken bedeutender österreichischer Klöster wie Admont, Heiligenkreuz, Melk oder St. Peter in Salzburg ebenso wie die öffentlichen Bibliotheken etwa in Wien, Graz und Linz nach historisch relevanten Texten und Heiligenlegenden ab. In einem „Iter Austriacum 1853“ [3]  erweiterte er dann die Reiseroute nochmals. Seine Hoffnung, mit seinen Berichten andere Gelehrte zu weiteren Nachforschungen und neuen Projekten anzuregen, erfüllte sich jedoch nicht, sodass er sich 1876 genötigt sah, eine Ferienreise zum nochmaligen Besuch der steiermärkischen Stifte und zur Aufarbeitung einiger Quellen zu nutzen[4]. Möge diesem Blog ein ähnliches Schicksal erspart bleiben!

[1] Carl Rodenberg, „Wattenbach, Ernst Christian Wilhelm“. Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 439-443 [Onlinefassung].

[2] Wilhelm Wattenbach, Reise nach Österreich in den Jahren 1847, 1848, 1849. Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtkunde 10 (1851) 426-693.

[3] Wilhelm Wattenbach, Iter Austriacum, Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen 14 (1855) 1-94.

[4] Wilhelm Wattenbach, Bericht über eine Reise durch Steyermark im August 1876. Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde 2 (1877) 381-425, hier 385.

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Iter Austriacum

Jeder Handschriftenforscher kennt die Situation: Man beginnt die Arbeit an einer Handschrift mit einem bestimmten Forschungsziel vor Augen und plötzlich fällt der Blick auf Texte, Marginalien, Glossen, Besitzvermerke und andere Eintragungen, die nicht im Mittelpunkt der eigenen Forschungen stehen und doch interessant scheinen. Die Erkenntnisse werden notiert, vielleicht mit einigen weiterführenden Hinweisen versehen; von einer Publikation wird jedoch zunächst abgesehen, um noch weitere Forschungen anzustellen. In den meisten Fällen endet der Forschungsweg dann leider an dieser Stelle und findet nicht einmal Eingang in die Rubrik „Kurze Berichte aus Handschriften“, wozu einige Zeitschriften die Möglichkeit böten. Damit bleiben diese potentiell für eine größere Wissenschaftsgemeinschaft nützlichen Informationen oft für immer im privaten Archiv verborgen.

Ziel dieses Blogs ist es eine Plattform zu bieten, um solche Funde und Erkenntnisse rasch und gesammelt online zur Verfügung stellen zu können. Wie der Name schon andeutet, liegt das Hauptaugenmerk auf Handschriften in und aus dem heutigen Österreich, ohne jedoch Notizen aus anderen Orten ganz außer Acht lassen zu wollen.

Die Idee zu diesem Projekt entstand im Umfeld des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung; der Blog möchte aber ein Gemeinschaftsblog sein, weswegen wir alle an Handschriften Interessierten herzlich zur Abfassung von Beiträgen einladen.

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